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 Tod, Jenseits:  iAntworten?
Joseph Hahn, O Ewigkeit...
 
 

Vorwort.

Dem frommen Kohlenbrenner Eberhard J u n g, Jung-Stillings Grossvater, wurde um das Jahr 1751, kurze Zeit vor seinem Heimgange die Gnade zuteil, dass er am hellen Tage einen Blick in die himmlische Heimat werfen durfte. Er war in den WaId gegangen, um Holz zu holen, und hatte die Seinigen auf einer Wiese zurück geIassen. Mit tiefer Rührung erzähIte er bei seiner Rückkehr:

„Wie ich  von euch in den Wald hineinging, sag ich weit vor mir ein Licht, eben so, als wenn morgens früh die Sonne aufgeht. Ich verwunderte mich sehr. Ei, dachte ich, dort steht ja die Sonne am Himmel. Ist denn das eine neue Sonne?

Das muss ja etwas Wunderliches ein, das muss ich sehen. Ich ging darauf zu. Wie ich vorhin kam, siehe, da war vor mir eine Ebene, die ich mit meinen Augen nicht übersehen konnte. Ich habe mein Leben lang so etwas herrliches nicht gesehen. So ein guter Geruch, so eine kühle Luft kam darüber her, ich kann’s euch nicht sagen. Es war ein so weisses Licht über die ganze Gegend ausgegossen, der Tag mit der Sonne ist Nacht dagegen. Da standen viel tausend prächtige Schlösser, eines nahe beim andern. Schlösser, ich kann’s euch nicht beschreiben, als wenn sie von lauter Silber wären! Da waren Gärten, Büsche, Bäche. O Gott, wie schön! Nicht weit von mir stand ein grosses, herrliches Schloss. Aus der Türe dieses Schlosses kam jemand heraus auf mich zu, wie eine Jungfrau. Wie sie nahe bei mir war, da war es unser seliges Dortchen (seine Schwiegertochter, Jung-Stillings Mutter). Sie sagte gegen mich so freundlich, eben mit der Miene, die mir ehemals so oft das Herz stahl: ‚Vater, dort ist unsere ewige Wohnung, Ihr kommt bald zu uns.’ Ich

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Sah und siehe, alles war Wald vor mir; das herrliche Gesicht war weg. Kinder, ich sterbe bald, wie freue ich mich darauf!“

Von jener Zeit an war der alte Stilling aber wie einer, der in der Fremde und nicht zu Hause ist. So berichtet uns sein Enkel Heinrich, auf welchen diese Begebenheit einen bleibenden Eindruck machte, wie aus den später von ihm geschriebenen „Szenen aus dem Geisterreiche“ zu ersehen ist.

Seit oben erzählter Vision und der Herausgabe dieses merkwürdigen und weitverbreiteten Buches sind im Laufe der Zeiten manchen Seelen Blicke in die selige und unselige Ewigkeit geschenkt worden, die sie manchmal nur ihren vertrautesten

 Freunden mitteilten und die nicht durch den Druck zur allgemeinen Kenntnis gekommen sind. Und wenngleich viele, ja sogar bibelgläubige Christen, von einer Verbindung mit der unsichtbaren Welt nichts wissen wollen und jede Nachricht von derselben zum mindesten stark bezweifeln, so geht doch da und dort das Wort des Herrn in Erfüllung, das er durch den Propheten Joel geredet hat: „Und nach diesem will Ich Meinen Geist ausgiessen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Ältesten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen.“ Joel 3,1. 

Nicht wenige der in nachstehenden Erzählungen verwerteten Ewigkeits-Aufsschlüsse verdankt der Verfasser einem jungen Mann*) von seltener Frömmigkeit, der, wie der bekannte Pfarrer Oberlin den hellsten Blick in die Zustände der Seelen nach dem Tode hatte und oftmals in Entzückungen im Jenseits weilte, wie auch neuerdings der Sadhu Sundar Singh und der durch ihn aufgefundene „Maharischi von Kailasch im Himalaja“. 

Möchte auch gegenwärtige Auswahl der in Hunderttausenden von Exemplaren verbreiteten Einzelhefte noch vielen Lesern zum Segen werden. Das walte Gott!

*) Näheres über die Persönlichkeit dieses frommen jungen Mannes, namens Johannes Gommel, enthält das im Anzeigenteil empfohlene Buch: „Der Geisterhannesle“.

Mitteilungen aus dem Leben des seltenen Gottesmannes Johannes Gommel, +21.Dez. 1841   

O Ewigkeit, Du Donnerwort!

O Schwert, das durch die Seele bohrt!

O Anfang sonder Ende!

O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit!

Ich weiss vor grosser Traurigkeit

Nicht, wo ich mich hinwende.

Mein ganz erschrocknes Herz erhebt,

dass mir die Zung am Gaumen klebt.

 Johnann Rist   1607 – 1667   (Neues Württb. Gesangbuch)

 

Ein Traum vom Gottesacker

In meiner Vaterstadt ist ein alter Friedhof, der schon eine Reihe von Jahren ausser Benützung steht. Ganze Geschlechter wurden im Laufe der Zeiten durch seine Tore getragen und ruhen nun dort in tiefer Vergessenheit. Schon oft flüchtete ich mich aus den vielfachen Zerstreuungen des täglichen Lebens in diese stillen Mauern und durfte daselbst manch schönes Segensstündlein zubringen.

Wenige Tage nach einem solchen Besuche träumte mir, ich trete nach meiner Ge-wohnheit durch die eiserne Türe des Gottesackers. Indem ich auf dem Hauptwege dahinschritt, der den Friedhof in zwei Hälften scheidet, fühlte ich mich angetrieben, die linker- und rechterhand liegenden Abteilungen zu begehen. Es war mir dabei, als sammle ich aus den einzelnen Gräbern die Gewänder der Toten. Doch gab mir diese Handlung nur einen vorübergehenden Eindruck, und in kurzem befand ich mich

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wieder auf dem mittleren Pfade, der nun zu meinem Erstaunen durch ein Kornfeld führte.

Die zu meiner Linken in grosser Anzahl vorhandenen Halme waren unverhältnismäs-sig hoch emporgeschossen; ihre Ähren sahen mager und leicht aus und gewährten einen gar traurigen Anblick. Das zu meiner Rechten stehende, viel kleinere Häuflein dagegen war etwas niedriger, aber doch  von schöner, erhabener Grösse. Tief neigten sich die schweren, vollen Ähren und stimmten mein Herz zu innigem Danke gegen den Schöpfer. Ich wurde ganz durchdrungen von den köstlichen Psalmworten: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen, und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“

Am Ende des Weges angelangt, fand ich die von mir gesammelten Kleidungsstücke, wieder, die in grosser Menge am Boden aufgehäuft waren. Prachtvolle, meist altertümliche Stoffe lagen im buntesten Durcheinander mit ärmlichen Lappen.

Indem ich mich bemühte, die schönsten und besten zusammenzulesen, um sie mit nach Hause zu nehmen, hörte ich meinen Namen rufen. Ich suchte nach der mir wohlbekannten Stimme und entdeckte in der Ferne meinen teuren, längst verstorbenen Vater. Freude und Schrecken durchbebte mein innerstes Wesen. Mit seinem Nähertreten verlor sich allmählich meine Furcht und ich flog in seine Arme. Er drückte mich an seine Brust, küsste mich, nahm mich bei der Hand und sagte: „Komm, ich darf dir jetzt ein Schauspiel zeigen, von dem die alltägliche Welt keine Ahnung hat!“ Wir schwebten nun gemeinsam zurück zum Friedhofe, regiert von dem leisesten Winke unseres Willens.

Kaum hatten wir das Kornfeld verlassen, so erblickte ich eine sonderbare Helle, ähnlich dem Vollmond; alles schien lebendig geworden zu sein; denn überall bewegten sich lichtere und dunklere Gestalten, die unruhig umherschwebten und zum Teil in eigentümlichem Zusammenhange mit den Gräbern standen. Wir kamen

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näher; mein Vater hielt mich fester und sagte: „Fürchte dich nicht, wir gehen mitten hindurch!“ Ich schmiegte mich inniger an seine Seite, und gar bald befanden wir uns in einer Welt voll überirdischer Wesen. Wir mussten beständig ausweichen, denn immer dichter wurde das Gedränge; in vollen Haufen kamen sie zum weitgeöffneten Tore herein. Der freie Platz vor dem Kirchhofe glich einer grossen Volksversammlung; auch die zur Stadt führenden Strassen wimmelten von Geistern beiderlei Geschlechts, nur Kinder sah ich nicht.

Alle, die an uns vorübergingen, schauten mich mit durchdringenden Blicken an. Mit Ausnahme der oft über zwei Meter hohen Personen fürchtete ich mich weniger vor denen, die uns auf dem Wege begegneten; dagegen konnte ich nicht ohne Entsetzen die in den schauerlichsten Formen und Zerrbildern auf den weniger schwarz, oft dunkelgrau mit hässlichen Flecken und hatten zum Teil Tierleiber; sie stritten sich um ihre Plätze, denn selten hatten sie ein Grab allein. Ein unausstehlicher Leichengeruch ging von ihnen aus, und ich sehnte mich fort von diesem grauenhaften Orte.

Auch mein Vater empfand dieses Bedürfnis und zog mich gegen ein altes Epitaphium, das von einem helleren Lichte umgeben war. Ruhe und Frieden entströmten den Gebeinen dieses gewiss hochseligen Toten. Ich las die Inschrift des Denkmals und fand, dass hier ein treuer Knecht Gottes dem Auferstehungsmorgen entgegenschlummere, der viele Jahre als Prediger der Gerechtigkeit mit grossem Segen gewirkt hatte. Wir liessen uns auf dieser geheiligten Stätte nieder, und erst jetzt wagte ich, meinen Vater um Aufklärung des Gesehenen zu bitten; er willfahrte meinem Wunsche gerne, indem er sagte: 

„Das Kornfeld, das du zuerst erblickt hast, ist ein Bild der Guten und Bösen, die hier begraben liegen. Wenige sind es, die zur Ehre ihres Herrn reiche Früchte des Glaubens und der

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Liebe brachten und nun ruhen dürfen von ihrer Arbeit in jenen seligen Gefilden des ewigen Friedens; die meisten haben nichts gesammelt und nichts gearbeitet für das Reich Gottes, mussten aus Anhänglichkeit an die Welt und ihre Lust zurückbleiben und sehen nun mit unendlichem Schmerze, dass sie des rechten Wegs verfehlt haben. Jene Kleidungsstücke zeigen die verschiedenen Stände an, welchen die Verstorbenen im Leben angehörten. Vornehme und Geringe, Reiche und Arme verschiedener Generationen liegen hier beieinander; zu Staub und Asche sind ihre Leiber geworden; nur wer auf den Geist gesät hatte, durfte vom Geiste das ewige Leben ernsten. 

O wenn die Menschen ahnen könnten, wie oft sie von Scharen meist unseliger Geister umgeben sind! Tausende und aber Tausende haben keine Heimat, kein Plätzlein, wo sie ausruhen können; unstet und flüchtig schweben sie umher und werden oft verfolgt von den Fürsten und Gewaltigen, die in der Luft herrschen.

Obschon das Dasein dieser Weltgeister, wie wir die Mehrzahl nennen wollen, recht traurig ist, so ist es noch erträglich im Vergleich mit dem Zustande derer, die auf den Gräbern sitzen und zeitenweise zur Strafe für ihre Eitelkeit und Fleischeslust der Verwesung ihres Leibes zusehen müssen. Viele aber auch sind in den Ewigkeitsgefängnissen wie Schafe zusammengepfercht, in Nacht und Kälte, weil sie keinen Glauben und keine Liebe hatten und beharrlich die angebotene Gnade zurückgewiesen haben.

Die Farbe zeigt im Verein mit der mehr oder weniger vollkommenen Gestalt den inneren Zustand der Seele an. Je heller und schöner, desto glücklicher und seliger: und umgekehrt. Wie du siehst, sind die Weltgeister alle grau. Und doch ist hin und wieder wie auch bei den schwarzen und gefleckten ein Unterschied bemerkbar. Einzelne haben sogar Tierformen, die die Art ihrer Leidenschaften erkennen lassen.

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Die Stolzen                                                                                                                      

Siehe die Stolzen, jene übermässig grossen Gestalten, wie sie verächtlich auf die andern Geister herabsehen! Sie werden nicht eher kleiner, bis sie ihren entsetzlichen Hochmut abgelegt haben. Einst wussten sie nicht, wie sie in ihrer Selbstüberhebung und Einbildung wandeln sollten, und ihr ganzes Wesen bäumte sich beim geringsten Widerstande gewaltig empor. O des Elends und Jammers! Nun ist die Decke gefallen, jetzt werden sie verhöhnt und ausgelacht!

 

Selbstmörder

Gar schrecklich ist das Los der Selbstmörder, und ihr Erwachen in der Ewigkeit ist furchtbar; denn sie erkennen alsobald, dass sie ihr Dasein durch ihren ungerufenen Hintritt nicht verbessert haben. Wenn ihnen dann gezeigt wird, welche alle menschlichen Begriffe weit übersteigende Herrlichkeit sie einst hätten empfangen dürfen, sofern sie im Vertrauen auf den Herrn ausgehalten hätten in den für sie verordneten Prüfungen, so ist des Klagens kein Ende. Viele tragen zur Strafe dafür, dass sie ihren von der Hand Gottes gebildeten Leib verachtet und zerstört haben, die Gestalt nackter Totengerippe und sind ein Spott aller unseligen Geister. Schutzlos gegen alle Unbilden der Witterung irren sie umher, bis die ihnen zum Leben auf der Erde zugemessene Zeit verflossen ist. Dann erst wird ihre Vergangenheit durchgerichtet und ihnen ein derselben entsprechender Ort angewiesen. Solchen jedoch, die unter dem Einfluss der finsteren Macht ihre Gnadentage in geistiger Umnachtung abkürzten, wird ihre Tat nicht so schwer angerechnet; doch wird der Herr ein wahres Gotteskind vor solchem Unglück zu behüten wissen.

Geizhälse

Viele der Zurückgebliebenen bestehen aus Geizhälsen und Leuten, welche an ihrem Hab und Gut hingen und nur für den Mammon lebten. Sie halten sich nach dem Wort des Herrn: „Wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“, vielfach in ihren ehemaligen Wohnungen auf, und möchten fast verzweifeln, wenn sie mit ansehen müssen, wie die von ihnen mühevoll ersparten Gelder so manchmal verschwenderischen Erben anheimfallen, die das ganze Ergebnis ihrer Lebenszeit

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in wenigen Jahren verprassen. Wie froh wären sie jetzt, wenn sie sich durch Mitteilen an Arme, besonders an bedürftige Kinder Gottes, einen Schatz im Himmel gesammelt hätten, und nun von ihnen aufgenommen werden könnten in die ewigen Hütten!

Wie so viel schöne Schriftstellen und Nachrufe stehen auf diesen Kreuzen und Grabsteinen, und ach, die wenigsten harmonieren mit der Vergangenheit der Verstorbenen

Manche unvollendete Seele begleitet ihren eigenen Leichenzug und hört unter dem Hohne der herbeigeströmten Geister sich selig preisen.

Nicht immer hindert der irdische Sinn die Dahingeschiedenen am Aufschwung; oft sind es auch die aus dem Mangel an rechtem Gottvertrauen entstehenden Sorgen für die Hinterbliebenen. Manche gläubige Mutter will nach ihrem Tode noch bei ihren Kindern bleiben; traurig entfernt sich der zur Begleitung an ihren Bestimmungsort beauftragte Engel und kommt oft lange nicht wieder zurück. Erst wenn sie erkennt, dass sie nicht mehr auf die Erde gehört und all ihr Sorgen und Bemühen für die Ihrigen nutzlos ist, erwacht die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat in ihrem Innern. Nach langem, angstvollem Harren wird sie endlich in die Räume der Vorbereitung für das Reich des Lichts abgeholt. Wohl sind die Kirchen jahraus, jahrein noch gut besetzt; aber wie wenige der Besucher bemühen sich, die gehörten Wahrheiten ins Leben zu bringen! Wenige derer, die sich Christen nennen, machen Ernst mit der Nachfolge in de Heilands Fussstapfen; die meisten wissen nichts von wirklicher Selbstverleugnung, vom täglichen Sterben des alten Menschen mit allen seinen Lüsten und Begierden. Ja, klein ist die Zahl derjenigen, von denen man sagen kann: sie sind nicht mehr die Alten, es ist ein Neues mit ihnen geworden. Deshalb sind es auch nur einzelne, die gleich nach ihrem Verscheiden eingehen dürfen ins Reich Gottes. Das vermögen nur diejenigen zu schauen, die von neuem geboren sind.

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An den meisten Seelen kann Gott sein Werk in dieser Gnadenzeit nicht vollenden, und sie kommen nach ihrem Tode in Reinigungsorte, wo sie das unter sehr erschwerten Umständen nachholen müssen, was sie während ihres Erdenlebens nicht lernen wollten. Das ist eine saure Arbeit nach so vielen Mühen, Sorgen und Schmerzen, da gibt es kein Entlaufen mehr! Nur durch Aushalten in den Läuterungstiegeln der Ewigkeit wird ihr Los nach und nach erträglicher, und sie gelangen nach Durchwanderung vieler Grade allmählich in die Vorhöfe des Himmels. Dort werden sie vorbereitet für den Eintritt in die Räume der Seligen, ihr ganzes Wesen muss durch und durch geheiligt werden; denn ohne Heiligung kann niemand den Herrn schauen.

dritter Himmel? Paradies, Stadt Gottes,  Berge Zion? äusserste Finsternis; Hölle, Feuer- und Schwefelpfuhl

Viele Menschen, auch wenn sie zu den Gläubigen zählen, haben gar schwache und oberflächliche Begriffe vom Jenseits. Sie kennen nur Himmel und Hölle und bedenken nicht, das viele nach ihrem inneren Zustande weder dem einen noch dem andern Orte zugewiesen werden können. Würde man  nur die Bewohner eines Dorfes oder Städtchens nach der Beschaffenheit ihrer Herzen in Klassen einteilen, wie viele Räume wären dazu erforderlich! Spricht nicht Paulus von einer Entzückung bis in den dritten Himmel? Wissen wir nicht aus der Heiligen Schrift von einem Paradiese, von der Stadt Gottes und dem Berge Zion? Lesen wir nicht von Geistern, welchen Christus in ihren Gefängnissen gepredigt hat, von einer äussersten Finsternis, wo Heulen und Zähneklappen ist, - von Hölle, Feuer- und Schwefelpfuhl

Das Sterben ist nichts anderes als das Ausziehen eines uns zur Bedeckung gegebenen Gewandes. Es verändert unsere Person nicht, sondern zeigt sie nur in ihrer wahren Gestalt und nach ihrem wirklichen Werte. Wer den Himmel, d.h. die Eigenschaften der dortigen Bürger, nicht mit sich bringt, kommt nicht hinein. Ja, ein unreiner und ungeheiligter Mensch könnte es dort gar nicht aushalten! Der Zug seines Herzens würde ihn bald in jene Stufe führen, welche mit seiner Unvollkommenheit im Einklang stände.

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Selig, Herrlich, ..

Mancher Sünder erlangt nach aufrichtiger Busse Vergebung und wird durch die Gnade des Heilandes wohl selig, aber nicht herrlich! Dieser Unterschied ist sehr ins Auge zu fassen! Herrlich werden nur diejenigen, welche ihre Lebenszeit von ihrer Bekehrung an im Dienste des Herrn zubrachten und in den Leiden und Prüfungen ihres Glaubens Treue hielten bis zum letzten Atemzuge. Ihre Kleider sind nicht nur weissgewaschen im Blute des Lammes, sondern sie glänzen und strahlen und sind geschmückt mit köstlichen Edelsteinen.

Lichtsreich

Wie freut sich da der ganze Himmel, wenn wieder eines von der Erde abgeholt wird, das eingehen darf ins heilige Lichtsreich! Scharen von Engeln und seligen Geistern begleiten solche Seelen unter Gesang und Musik in ihr Besitztum, dessen Schönheit und Vollkommenheit der Erdenbewohner sich nicht vorstellen kann.

Freilich, in der gegenwärtigen Zeit werden die wahren Christen immer seltener, aber um so herrlicher ist’s, wenn da und dort noch einzelne im lebendigen Glauben verharren und nicht wanken und weichen von Dem, der ihre Hilfe und ihr Trost ist, und der in solchen Kampfeszeiten den Seinigen besondere Kräfte und Gaben zufliessen lässt.

Mitternachtsstunde

Die Mitternachtsstunde kommt immer näher; der Unglaube nimmt überhand und die Liebe erkaltet in vielen! Auch in der Geisterwelt wird die baldige Wiederkunft des Herrn gepredigt. Die Bessergesinnten aller Stufen und Räume bemühen sich weiterzukommen; denn während der tausenjährigen Hochzeit des Lammes tritt ein Stillstand im Wachstum der Seelen ein. Der Bräutigam ruht dann von seiner Arbeit und freut sich mit seiner Brautgemeinde im himmlischen Jerusalem.

Wer an dieser ersten Auferstehung teilhaben will, darf sich mit nichts mehr aufhalten; der

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hat keine zeit mehr für die vergänglichen Dinge dieser Welt! Der muss durchdrungen sein von der reinen, heiligen, süssen Jesusliebe, in welcher er alle Menschen, Freunde wie Feinde umfasst, duldet und trägt. Die göttlichen Tugenden de wahren Demut, der Sanftmut und der Geduld, der Barmherzigkeit und der Milde, des Glaubens und des Vertrauens müssen der Schmuck einer solchen Seele sein, ohne welchen sie nicht Eingang findet in jene heilige Stadt, die goldene Gassen hat und Tore von köstlichen Perlen.

Viele halten auch allzufest an der Religionspartei, der sie angehören, und meinen, sie allein hätten das Wahre. O wenn sie doch offene Augen hätten und sehen könnten, wie vor dem Throne des Allerhöchsten Seelen aus allen Landen und Zeiten stehen, welche er gesammelt und zubereitet hat zu seinem Preise!

Ja sogar Juden und Heiden, die treu nach ihrem Gesetz und Gewissen lebten und keine Gelegenheit hatten, die Wahrheiten des Evangeliums in dieser Welt kennen zu lernen, dürfen nach vorhergegangener Belehrung und Annahme des Christentums eingehen in das Reich Gottes. Der Herr sieht nicht auf das Äussere, sondern auf die Treue, mit der man den gehörten Heilswahrheiten Folge leistet während der Lebenszeit.

Hier auf Erden ist alles Stückwerk; doch je inniger sich eine Religionsgemeinschaft an die Heilige Schrift anschmiegt, je mehr ihre Glieder den Sinn Jesu anziehen und seine Nachfolger werden, desto bälder gelangen sie zum Ziele. Jenen Christen aber, die nach ihrem Tode noch an den besonderen Meinungen einer Konfession oder religiösen Richtung festhalten, bleibt der Himmel so lange verschlossen, bis sie frei und los von allem Eigenen geworden sind; denn dort herrscht die vollkommenste Harmonie aller Wesen, dort erst wird eine Herde und ein Hirte werden.

Beim Gedanken an jene herrliche Zeit, wo Gott alles in allen sein wird, wallt mein Herz in heiliger Liebe für den Herrn, der nicht ruhet, bis alles wiedergebracht ist, bis alle Folgen

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der Sünde getilgt, zu Quellen des Segens verwandelt, und Tod und Hölle aufgehoben sind.

Tief schmerzt es alle seligen Geister, dass Jesus von vielen Menschen nicht mehr als der Sohn des lebendigen Gottes anerkannt wird. O wenn sie wüssten, wie sehr er sie liebt! Wenn sie sehen könnten, wie verlangend er seine durchgrabenen Hände nach ihren Seelen ausstreckt, - gewiss, sie würden ihm nicht länger den Rücken kehren, sie müssten ihm zufallen und ausrufen: „Er allein ist würdig zu nehmen Preis, Ehre, Dank und Anbetung von Ewigkeit zu Ewigkeit“!

Wie viele Fragen geängstigter, von Sorgen, Schmerzen und Heimsuchungen aller Art bedrückter Herzen lassen sich im Hinblick auf des Heilandes herrliche Liebesabsichten beantworten! Er will die Seelen um jeden Preis retten, und ach, er kann es leider selten ohne die schmerzlichsten Kuren! Aber das ewige Wohl der Menschen ist ihm wichtiger als der vergängliche Leib, und er muss nach seiner göttlichen Weisheit fortfahren mit scharfen Mitteln, bis er seinen herrlichen Zweck erreicht hat.

O wie danken es ihm seine Kinder in der Ewigkeit, dass er ihren törichten Bitten und Gegenvorstellungen einst kein Gehör schenkte und nicht müde wurde mit seiner schweren Arbeit! Denn dort erkennt man im hellsten Lichte, dass Leiden ein Unterpfand seiner Liebe sind, und bedauert diejenigen, welchen er keine auferlegen konnte. Ja, man freut sich darüber, wenn zurückgelassene lieben in der heilsamen Schule des Kreuzes geprüft und erzogen werden; man fleht für sie, aber nicht um Abnahme ihrer Beschwerden, sondern um Geduld und Ausharrungskräfte zum endlichen Siege. –

Schicksal der kleinen Kinder

Ich sehe in deinem Innern den Wunsch aufsteigen, auch etwas vom Schicksal der kleinen Kinder zu vernehmen. Niemand tadle den Höchsten, wenn er es nach seiner Weisheit und Allwissenheit für gut findet, viele in früher Jugend in sein Reich zu nehmen. Dort werden

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sie im so genannten Kinderparadiese von Lehrern und Lehrerinnen erzogen und dürfen einst frommen Eltern als stattliche Söhne und Töchter in himmlischer Schönheit entgegengehen.  Böse Kinder jedoch erfahren erziehende Strenge an Orten der Reinigung, wo sie stufenweise für die Seligkeit zubereitet werden.

Die Bande irdischer Verwandtschaft bleiben jenseits des Grabes nur dann festgeknüpft, wenn die Liebe zum Heiland die Herzen verbindet. Er selbst sagte ja einst zu seinen Jüngern: „Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, derselbe ist mein Bruder, meine Schwester und Mutter.“ Der Tod trennt deshalb viele Ehegatten, Geschwister und Verwandte, die nicht in einem sinn und Geist der oberen Heimat zueilten, und es steht oft Ewigkeiten an, bis sie einander wiedersehen. 

Reichen Ersatz aber finden Kinder Gottes an geistigen Brüdern und Schwestern, die auch nach ihrem Heimgang noch in inniger Liebe mit ihnen verbunden bleiben und es (menschlich geredet) fast nicht erwarten können, bis sie für immer vereinigt werden. Auch andere selige Geister, die durch grosse Ähnlichkeit des Charakters und der Führungen mit uns harmonieren, begrüssen uns dort als längst bekannte Freunde; denn sie sind durch Engel von unserem Erdenlauf unterrichtet und auf unsere Ankunft im Jenseits vorbereitet worden. Gottesmänner und fromme Seelen, deren Schriften uns einst teuer waren, besuchen uns und dürfen uns aus dem Schatze ihrer im himmlischen Lichte erweiterten Erkenntnis, sowie aus ihren Lebensgeschichten noch vieles mitteilen. Da erfährt man dann auch, dass sie uns oft unsichtbar umgaben, wenn wir in stillen Stunden in ihren Büchern lasen.  Wir Heimgegangenen fühlen, wenn man auf Erden unser liebend gedenkt; wir werden dadurch hergezogen und kommen auch mit Erlaubnis des Herrn gerne zu den Unsrigen. Eingekehrte Herzen empfinden unsere Anwesenheit leichter; es gibt hie und da aber auch solche, denen das innere

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Auge zeitenweise geöffnet ist, dass sie ihre geistige Umgebung sehen können. Manche vernehmen nur unsere Stimme; wieder andere verweilen in Träumen im Geisterreiche, je nach den Gaben und der Veranlagung.

Engel steht an der Seite

Der Pilger im Tränentale ist niemals allein, das Auge Gottes ruht beständig auf ihm und an seiner rechten Seite steht ein Engel, der ihm während der ganzen Dauer seines Erdenlebens zum Schutze beigegeben ist. Auch Geister der Finsternis stellen sich ein und suchen ihren Einfluss auszuüben. Sucht eine Seele das Gute, so steht ihr der Engel mit allem ihm zu Gebot stehenden Kräften mächtig bei; neigt sie sich jedoch zum Bösen, so wird sie durch Diener des Satans bewirkt; der heilige Beschützer muss zurücktreten und den Verirrungen mit Trauer und Wehmut zusehen.

Scharen von Seligen umschweben betende Seele

Eine betende Seele umschweben oftmals Scharen von Seligen. Ja, der Herr selber naht sich solchen, die in heiliger Liebe für ihn erglühen, und erfüllt sie mit Kraft und Mut zum Kampfe. Doch immer sind es nur einzelne, die die Wahrheit jener Verheissung erfahren dürfen: „Wer mich liebet, der wird mein Wort halten und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen“.

Die Fürbitte für Verstorbene ist nicht nur erlaubt, sondern Gott wohlgefällig, wenn sie aus redlichem Herzen kommt. Er erhört solche Gebete, wenn seine Stunde gekommen ist, und teilt unglücklichen Seelen Gnadengroschen aus. Für Personen, von denen man wissen kann, dass sie an Orten der Verdammnis sind, kann nicht ein jedes flehen; das darf nur von geistesstarken Betern geschehen, denn die Macht der Finsternis gibt ihren Raub nicht ohne grossen Widerstand heraus.

Manche einfache Magd trägt droben in der Verklärung ein Priestergewand, weil sie im Kämmerlein um das Heil der Seelen rang. Sie wurde in dieser Zeit um ihres Glaubens

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willen verachtet und verkannt, doch ihre stolze Gebieterin würde sich jetzt glücklich schätzen, in jener Herrlichkeit unter die Zahl ihrer Dienerinnen aufgenommen zu werden.

Es ist der Mühe und des Schweisses wahrlich wert! 

Gross ist der Gnadenlohn im Lande der ewigen Freuden für diejenigen, die sich um des Heilandes willen alles gefallen liessen im täglichen Leben und mit Verleugnung alles Irdischen in seinen Fussstapfen wandelten. Er hat nichts vergessen, was sein Jünger oder seine Jüngerin aus Liebe zu ihm getan, gelassen und verleugnet hat; nur die Sünden scheinen aus seinem Gedächtnis gekommen zu sein gekommen zu sein, denn von ihnen erwähnt er kein Wort. Er kennt uns durch und durch, erfüllt alle unsere Wünsche und hat unsere Wohnungen ganz unseren Neigungen entsprechend eingerichtet.  Beim Anblick jener unvergänglichen Herrlichkeiten muss jede Seele ausrufen: Ich bin viel zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du mir bewiesen hast; denn was kein Auge gesehen, kein Ohr gehöret hat und in keines Menschen herz gekommen ist, hast du, o Gott, denen bereitet, die dich lieben! Dort wohnt nur Liebe, Freude und Friede; Schmerzen, Sorgen, Armut und Not sind für immer verschwunden! Eine Stunde in der ewigen Heimat lässt auch das Bitterste vergessen. Wie unrichtig sind oft die menschlichen Vorstellungen von den Räumen der Seligkeit, wie einseitig und eintönig! Dort ist lauter Leben und eine nie geahnte Mannigfaltigkeit aller Dinge. Die uns auf Erden anvertrauten Gaben werden alle wiedergefunden, vervollkommnet und geheiligt und im Dienste des Herrn, von dem ja alles kommt, zur Verherrlichung seines grossen namens verwendet. Auch die Kreatur hat eine Stimme zum Loben und Danken. Jedes Vögelein singt seinem Schöpfer zu ehren seine lieblichen Lieder; jede Blume will zu einem Preise blühen und jede Frucht zu seinem Ruhme genossen werden. Alles, was den Hauch des Ewigen in sich trägt, entgeht der Vernichtung und wird wiedergefunden in der verklärten Natur

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O könnten bedrückte und ermattete Herzen, die den steilen Pfad mühsam im dunklen Glauben emporklimmen, einen kurzen Blick in jenes Friedensland werfen, gewiss müssten sie bekennen: Es ist der Mühe und des Schweisses wahrlich wert!   

Schon in den Vorhallen des Himmels, die zur Heiligung der Seelen dienen, wo man den Herrn noch nicht schauen kann, wohnt ein göttlicher Friede, der höher ist als alle Vernunft. Hier dürfen die Pilger ausruhen von der beschwerlichen Reise des Lebens und werden stufenweise für die Verklärung zubereitet. Mit dem Wachstum in der Heiligung nimmt auch ihre Seligkeit zu, und sie gelangen nach und nach in das Reich der Herrlichkeit, wo alles strahlt und glänzt. Dort dürfen sie in Festzeiten en König aller Könige sehen, wenn er mit seinem Gefolge die Himmel durchzieht. Niemand kann die Macht seines majestätischen und doch so liebevollen Blickes ertragen, ohne sich in Demut tief zu beugen. Seine Erscheinung vermehrt in allen Seligen die Sehnsucht, immer bei ihm zu sein. Er ist ja die Quelle aller geschaffenen Dinge, aller Freuden und alles Glücks; wer ihn hat, hat alles! 

Wer in seine heilige Stadt eingehen will, muss auferstanden sein. Dort thront er auf dem Berge Zion mitten unter den Bürgern Jerusalems und ist ihnen, je nach dem Grade ihrer Liebe und Reinheit, ein König, ein Freund, ein Bruder oder ein Bräutigam. Brautseelen sind in seiner nächsten Umgebung und folgen dem Lamme, wohin es immer geht. Sie liessen sich schon auf der Erde für diese höchste Würde zubereiten, und ihre Herzen waren in jungfräulicher Liebe nur ihrem Herrn geweiht. Die Pracht und Schönheit, die jene Mauern umschliessen, lässt sich nicht in menschliche Worte fassen. Weithin sind die Lobgesänge der Heiligen und das Rauschen der Harfen hörbar, und das Licht vom Throne erhellt alle Himmel. 

Wohlan, mein Sohn! Blicke hinauf zu unserer wahren Heimat und lass dir diese wichtigen

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Aufschlüsse zum besten dienen. Gehe ein durch die enge Pforte und wandle mutig weiter auf dem schmalen Wege, der immer seltener betreten wird. Halte dich nicht zu denen, die den Namen haben, das sie leben und doch tot sind; sie machen ihrem Herrn und Meister keine Ehre durch ihr laues, träges Wesen und unterscheiden sich kaum mehr von den Kindern dieser Welt. Die Herzen solcher Halbchristen hängen an den irdischen Gütern, und ihre Gemüter sind gefangen von tausend vergänglichen Dingen. Meinest du, sie könnten in den herannahenden Tagen des Antichrists um des Namens Jesu willen Haus und Hof verlassen oder gar ihr leben hingeben? Viele, die sich Kinder Gottes nannten, werden zu jener zeit der Verfolgung abfallen, weil sie keinen lebendigen Glauben hatten und ihre Hoffnung nicht allein auf den Herrn setzten.

„Gib dem, der dich bittet und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will.“ Gib nach Kräften und weise niemand von deiner Türe. Gib nach Kräften und weise niemand von deiner Türe. Ein Scherflein zur Stillung des Hungers ist jede Seele wert, und für alle Menschen hat unser treuer Heilland sein kostbares Leben gelassen. Zerbrich dir den Kopf nicht, wer deiner Gabe würdig sei, sondern gib deine Almosen allezeit nur ihm, dem auch du alles zu verdanken hast, so kann ja nichts verloren gehen, und es wird dir gewiss reichlich vergolten werden. 

Suche nichts mehr auf der Erde und lass dich nicht irre machen von solchen, die mit dir streiten wollen, welche Genüsse der fünf Sinne den Pilgern gestattet seien oder nicht. Der wahre Christ fragt nicht: Was darf ich geniessen von den Freuden dieser Welt? Sein Wahlspruch heisst: Was mich nicht fördert, hält mich auf! Verleugne aus Liebe zum Heiland auch gerne das, was an und für sich wohl erlaubt ist, aber keinen Nutzen für die Ewigkeit bringt. Es freut den Herrn, der um unsretwillen die Herrlichkeit verliess und Knechtsgestalt annahm, wenn wir seinem Beispiel folgen und alles nur zur Notdurft

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gebrauchen; mit dem Übrigen sollen wir bedürftigen Gliedern und Armen dienen. Wer wenig verleugnet, wird wenig ererben; wer viel verleugnet, wird viel ererben und wer alles verleugnet, wird alles ererben.

Lass dir einen lebendigen Glauben schenken, ein unbegrenztes Vertrauen auf den Herrn, ohne dessen Willen kein haar vom Haupte fällt. Dieses Wort ist volle Wahrheit und bei dir ein Trost in allen Lebenslagen, Leiden und Prüfungen. Ja, Gott ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir; er regiert alles und sorgt für alles; nicht nur für die Bedürfnisse des Leibes, sondern auch für diejenigen der Seele, deren ewiges Wohl ihm so sehr am Herzen liegt 

Halte da aus, wo der Herr dich hingestellt hat. Gehe keine eigenen Wege, lass dich von ihm führen und in der Gnadenzeit frei machen von allen Untugenden und Unreinigkeiten, auf dass du einst nach Ablegung deiner Hülle unaufgehalten und unangetastet, beschützt und geleitet von heiligen Engeln und Seligen, hindurcheilen kannst durch das Tal des Todes, welcher Gang niemandem erspart bleibt. Eile vorwärts, denn hier kann man in einem Tage weiter kommen als dort in Jahren! Nur die Überwinder empfangen Kronen und tragen Siegespalmen in den Händen. Sie werden durch alle Ewigkeiten hindurch den Vorzug vor denen haben, die erst in den schrecklichen Tiegeln jener Welt gereinigt, geläutert und geheiligt werden mussten. Die Zeit  flieht dahin, ob wir sie im Genusse des Irdischen oder im Dienste des Herrn zubringen. Bald stehst auch du am Ziele, und wohl dir, wenn du zu jenen gehörst, die auf ein gut Land gesät waren, die das Wort hören und nahmen es an, und brachten hundertfältige Frucht! 

Doch jetzt müssen wir scheiden. Auf Wiedersehen in der himmlischen Heimat, im wahren Vaterhaus!“ –Ein Kuss, ein Händedruck – und ich erwachte.

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„’s war nur ein Traum,“ so sprichst du leise

dem bangen herzen tröstend zu

und lebst nach deiner alten Weise:

gewissenlos, in falscher Ruh!

Doch fällt die Hülle, wird dir’s klar,

dass dieser Traum voll Wahrheit war!
 

 
 
 

Joseph Hahn:  O Ewigkeit – Teil 2

Zwischen Himmel und Erde.

(Blätter aus dem Tagebuch eines Geistersehers.)

den 9. Januar 1893

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Endlich schlägt die heissersehnte Stunde, da ich mit dem schon lange beabsichtigten Niederschreiben der seltsamen Erlebnisse meines inneren Menschen beginnen kann. Niemand will mich verstehen; die Ungläubigen lachen über mich und sagen, ich sei verrückt. Selbst die Bessergesinnten verziehen bei meinen Erzählungen den Mund und werfen einander vielsagende Blicke zu. Scheltet, ihr Toren, und lächelt, ihr Weisen! Für euch alle kommt einst der Augenblick, wo eure Augen schrecklich aufgehen und ihr selbst erfahren werdet, was jener sterbende Gottesleugner mit den Worten ausdrückte: „Es ist nun alles Leben vom Gehirne in die Herzgrube; ich fühle von meinem Haupte gar nichts mehr, ich spüre meine Arme, meine Füsse nicht mehr. Aber ich sehe unaussprechliche Dinge an die ich nie glaubte!“

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Unvergessliche bleibt mir jener rätselvolle Herbstabend, wo ich, in ernste Gedanken versunken, am Fenster meines Kämmerleins sass. Heilige Stille wohnte in  meinem Herzen und erfüllte auch mein trauliches Heim.  Es war ein rechtes Gnadengeschenk Gottes, dass ich nach Überwindung innerer und äusserer Stürme endlich zu mir selber kam und mein eigenes langverlorenes Ich wiederfand. Ausser dem Summen eines nimmermüden Mückleins, das vergeblich an den Scheiben schwirrte, drang kein Laut an mein Ohr. Mein Blick ruhte in der Ferne, wo der aufsteigende Nebel des Tales sich im lichten Abendgewölke verlor. Der letzte Schimmer der untergegangenen Sonne verblasste allmählich; der Horizont zerfloss in eintöniges Grau, das im Westen eine endlos scheinende Fläche darstellte und zu welcher ein schmaler Wolkensteg empor zu führen schien. Ich hatte Lust hinaufzuklimmen, erstieg im Geiste das luftige Geklüfte und stand im Nu am Rande einer Ebene, die sich mit ihren unermesslichen Fernen vor mir ausbreitete. Lange schaute ich hinein in die schweigende Dämmerung und sank unbemerkt in einen halbwachen Zustand, in welchem mir gar Wunderbares begegnete. Ich hatte dabei die Empfindung, als würde meine Seele von den Fesseln des Körpers entbunden. Je freier ich mich fühlte, desto stärker wurde auch das Licht, das zugleich aus meinem Innern hervorbrach und meine Umgebung auf eine grössere Entfernung erhellte.

Vor mir lag eine düstere, wenig belebte Gegend, wie zum Nachdenken geschaffen, mit vereinzelten, schlechtgebauten Häusern und halb verkrüppelten Bäumen. Ich näherte mich der nächsten Hütte, die sehr niedrig war und zu ebener Erde ein kleines Gemach enthielt. Ein Blick durchs offene Fenster zeigte mir einen ärmlich gekleideten Mann, der anscheinend mit tiefer Betrübnis in einem dicken Folianten las. Er hatte die Hände gefaltet, betete und seufzte: „o die vielen Sünden, sie stehen alle vor mir; mein Inneres wird mir immer mehr aufgedeckt und enthüllt! Auch das Kleinste, was ich je getan und gedacht

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habe, ist aufgezeichnet. Ach wie lange suchte ich die Fehler bei meiner Umgebung, und an mir selbst lag doch die grösste Schuld! O Jesu, wasche mich wohl von meiner Missetat und reinige mich von meiner Sünde; denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir!“ – Mein ganzes Wesen durchdrang bei diesen Worte ein Gefühl von Erbarmen und Mitleid, und ich flehte für diese bussfertige Seele stille zum Herrn um Vergebung.
Unter meinem Gebete veränderte sich die ganze Landschaft, und in kurzem befand ich mich auf einer breiten Strasse, welche durch ein grösseres Dorf führte. In allen Häusern herrschte ein reges Leben und Treiben gleichwie in der Welt; überall jedoch vernahm ich bei den häuslichen und gewerblichen Beschäftigungen der Bewohner ein unaufhörliches Widersprechen und Schelten, das mich ausserordentlich anwiderte, und ich verdoppelte meine Schritte, um das Ende dieses unfriedlichen Ortes zu erreichen. Bei einem der letzten Häuser hörte ich im Vorübergehen den Klang einer Schmiede, welche meine Aufmerksamkeit einen Augenblick in Anspruch nahm. Meine Blicke richteten sich unwillkürlich auf den ältesten Gesellen, der mich durch sein kummervolles Aussehen besonders anzog. Er schien mich nicht zu bemerken und verrichtete mit vielem Fleisse sein mühevolles Tagewerk. Doch war es ihm nicht möglich, die Zufriedenheit seines gestrengen Meisters zu erwerben; denn trotz aller Anstrengungen des Gesellen hörte er nicht auf, ihn mit harten Worten zu tadeln.  Man sah es dem schwergeprüften Arbeiter an, dass es ihm nicht leicht wurde, die Menge der ungerechten Beschuldigungen zu ertragen, es bewegte ihn sichtlich nicht wenig; doch richtete er seinen Blick ab und zu aufwärts, als ob er sich Kraft zum Überwinden erflehe, und schwieg mit staunenswerter Geduld. Ich segnete ihn in meinem Herzen, befahl ihn der Barmherzigkeit Gottes und eilte weiter.

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Vor dem Dorfe, gleichsam an der Grenze der Gemarkung, begegnete ich einer grösseren Anzahl Personen, die sich hier versammelt hatten. Das unangenehme Dunkel in welches die ganze Ortschaft eingehüllt war, lichtete sich etwas an dieser Stelle; eine neue Stufe schien zu beginnen, die wohl nur von den Einwohnern betreten werden konnte, die die Fähigkeit dazu errungen hatten; denn viele wünschten weiterzugehen, kehrten jedoch wie von heftiger Atemnot gezwungen immer wieder zurück. Manche dieser Flüchtlinge, die meiner Vermutung nach in der ihnen angewiesenen Reinigungsschule nicht aushalten wollten, wurden mit Schlägen und Schmähungen empfangen und gewaltsam in ihre bisherige Stellung zurückgeführt.
Während ich diese seltsamen Vorgänge beobachtete, drängte sich in bescheidener, aber entschiedener Weise ein Mann durch die Menge, in welchem ich sofort jenen Schmiedgesellen erkannte. Er sah friedlich, doch sehr ernst und eingekehrt aus, und betrat festen Schrittes die jenseitige Grenze. Gegen alle Erwartung der Umstehenden kehrte er nicht mehr zurück, sondern lief ohne den mindesten Widerstand auf der Landstrasse weiter. Es war mir bei seinem Anblick fast unmöglich, länger auf diesem Platze zu verweilen; ich folgte dem starken Zuge und eilte ihm nach. Bald hatte ich den raschen Wanderer eingeholt, grüsste ihn und fragte nach seinem Reiseziel. Er zauderte, mir die Antwort zu geben, als befürchte er eine Versuchung. Als ich ihn aber versicherte, dass es mein aufrichtiges Bestreben sei, die himmlische Heimat zu erreichen, ging ihm das Herz auf, sein Angesicht erheiterte sich zusehends, und, indem wir unsern Weg gemeinsam fortsetzten, begann er folgendes zu erzählen:

„Ich war der einzige Sohn christlicher Eltern, die in einem Landstädtchen Deutschlands wohnten. Mein Vater, ein Huf- und Wagenschmied, bestimmte mich gleichfalls für dieses Handwerk, wozu ich auch Lust und die nötige Körperkraft besass. Nach Ablauf meiner Lehrzeit ging ich mehrere Jahre in die Fremde. Als ich durch das Los vom Militärdienst

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befreit wurde, trat ich auf Wunsch meines inzwischen zum Witwer gewordenen kränklichen Vaters in dessen Geschäft ein, das nach seinem bald darauf erfolgten Tode in meinen Besitz kam. Ich suchte nun einen eigenen Hausstand zu gründen und war so glücklich, ein frommes Mädchen heimzuführen, deren inneren Wert ich aber leider nicht genug erkannte. Sie bemühte sich mit grosser Entschiedenheit, Gott zu dienen; doch war mir der Weg, den sie wandelte, viel zu schmal und zu steil, und deshalb gar oft ein Stein des Anstosses in unserem Familienleben. Ich dachte, es sei genug, wenn wir dem sonntäglichen Gottesdienst beiwohnen, einen Morgen- und Abendsegen lesen, und uns ehrlich mit unserer Hände Arbeit durchbringen würden. Sie aber besuchte, so oft sie konnte, die Versammlungen der Frommen in unserem Städtchen, ging fleissig zum Tisch des Herrn, betete des Nachts oft heimlich noch lange auf den Knien, und liess keinen Bettler unbeschenkt laufen, wenn er auch noch so unwürdig aussah.

Ein hitziges Gliederweh warf mich geraume Zeit aufs Krankenlager; ich den Gedanken ans Sterben fast nicht mehr loswerden. Man liess unseren Beichtvater herbeirufen, welcher mich anfangs mit einer baldigen Genesung vertröstete, und, als sich mein Zustand verschlimmerte, mir die zukünftige Welt mit ihren Wonnen vor Augen stellte. Mein Herz wurde immer unruhiger und friedloser; der Ernst der nahen Ewigkeit lag bange auf meiner Seele. Der Geistliche suchte mich zu trösten und reichte mir auch das Nachtmahl; doch wollte keine rechte Sterbensfreudigkeit bei mir einziehen. Ich verspürte keine aufrichtige Sehnsucht nach dem Heiland und der oberen himmlischen Heimat. Die Sorge um die Zukunft der Meinigen gestattete meinem Geiste keinen Aufschwung. Wenn sich die Schmerzen steigerten und mich zum Gebete antrieben, so war mein heissestes Verlangen nur auf die Erlösung des vergänglichen Leibes gerichtet. Endlich nach vielen Leiden opferte

30ich meinen Willen, übergab mich dem Herrn auf Gnade und Ungnade und wartete auf seine Hilfe.

Eines Tages verfiel ich unter heftigem Fieber in schwere Träume. Ich hatte das Gefühl, als löse sich meine Seele auf unbeschreibliche Weise von den Banden des Körpers und suche mit vieler Mühe und Anstrengung einen Ausweg. Ein plötzlicher Schlag erschütterte mein ganzes Wesen und durchschnitt die Fesseln, die mich gefangen hielten. Die Schmerzen verschwanden, und als ich zum vollen Bewusstsein kam, stand ich in meinem Schlafzimmer und wenige Schritte vor mir ein Engel, der mir in ernster, gebietender Weise winkte. Ich konnte ihm fast nicht widerstehen; doch ein Blick nach meiner vaterlosen Familie, die sich laut klagend um meinen nun entseelten Leib versammelt hatte, hielt mich fest. Mit Gewalt wandte ich mich ab von dem himmlischen Boten, wollte sein endringliches Mahnen, die Meinigen der Fürsorge des allmächtigen Gottes zu überlassen, nicht hören, und ehe ich mich versah, war er verschwunden. Nun war ich allein, denn weder meine Frau, noch meine Kinder sahen mich, und alle Anstrengungen, mich ihnen kundzugeben, waren vergeblich. Man traf die nötigen Vorbereitungen zur Beerdigung meiner verweslichen Hülle; ich half mitsorgen, war bald da, bald dort im Hause, hörte und sah gar mancherlei, womit ich nicht einig war. Doch all mein Bemühen war nutzlos und ich fühlte mich je länger, je mehr vereinsamt und unglücklich. Die Neugierde trieb mich an, meinem Leichenzug zu folgen. Man sang das Lied: „Es ist vollbracht,“ und mein Seelsorger predigte über den Text; „Die richtig vor sich gewandelt haben, kommen zum Frieden und ruhen in ihren Kammern“. Und während er der Trauerversammlung mein Leben als ein frommes und rechtschaffenes vor Augen stellte und meine Seele glücklich pries, dass sie vollendet im Schosse des Heilandes ruhe, stand ich tiefbekümmert neben meinen Kindern, verspottet und verlacht von andern Geistern, die sich scharenweise um mein Grab versammelt hatten.

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Nach Verfluss von 40 Tagen, in denen ich die Bekanntschaft von vielen Zurückgebliebenen machte und mir manches Schreckliche und Ungeahnte begegnete, kam jener Engel wieder und winkte mir zum zweiten Male. Nun säumte ich nicht länger, ihm zu folgen. Er nahm mich unter seine Fittiche und im Fluge eilten wir durch die von Geistern aller Art bevölkerten Luftregionen in eine stille, spärlich erleuchtete Einöde, wo er mich zu einem kleinen Häuschen führte und sich hierauf entfernte. Dort verweilte ich geraume Zeit ohne jegliche Gesellschaft und übte mich im Nachdenken. Ich möchte daselbst mehrere Monate (nach menschlicher Rechnung) zugebracht haben, da erschien mein himmlischer Führer wieder und übergab mir ein grosses, dickes Buch, das meine Lebensgeschichte enthielt. Grosser Gott! Alle Sünden, Mängel und Versäumnisse, die ich mir je hatte zu Schulden kommen lassen, waren darin aufs pünktlichste eingetragen. Jeder Tag mit seinen mannigfaltigen Begebenheiten zog dabei in lebendigen Bildern an meiner Seele vorüber. Ich erkannte, dass mein irdische Sinn die grösste Ursache des Unfriedens gewesen war, der öfters in unserem Hause geherrscht, und den ich der, wie ich meinte, übertriebenen Frömmigkeit meiner Gattin zugeschrieben habe.

Meine Ungerechtigkeit beugte mich tief; ich sah, dass ich die ewige Verdammnis verdient hätte, und rief zum Herrn in meinem Elende. Er erbarmte sich auch meiner, vergab mir alle meine Sünden und liess mir sagen, dass ich nach vorhergegangener Reinigung und Heiligung aus Gnaden noch ein Plätzlein in seinem Reiche empfangen werde. Der Engel, der mir diese Freudenbotschaft überbrachte, fügte hinzu, ich möge genau auf die Stimme des Geistes Gottes in meinem Inneren achten, so werde mich derselbe von Stufe zu Stufe dem himmlischen Lichte näher führen. Tiefer Friede zog bei diesen Worten in mein Herz ein, und ich wurde voll Dank und Anbetung.

Ich verliess nun, einem inneren Drange folgend, meine Einsamkeit und eilte nach jener 

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Richtung, wo sich die Dämmerung ein wenig lichtete. Bald erreichte ich das jetzt hinter uns liegende Städtchen, wo ich mir schon beim ersten Hause vornahm, auf der Hut zu sein und mich durch nichts mehr aufhalten zu lassen. Als ich in raschem Laufe durch die Gassen schritt, hörte ich mich mehrmals beim Namen gerufen. Da ich den Stimmen jedoch kein Gehör schenkte und weder links noch rechts schaute, wurden mir Schandreden aller Art nachgeworfen; ich achtete derselben nicht und ging stille meines Wegs.

Schon freute ich mich, diese Probe bestanden zu haben, da gewahrte ich ausgangs des Städtchens eine Schmiedwerkstätte. Der Eigentümer sass vor der Türe und blickte mich an, als ob er mich schon längst erwartete. Zu meinem Schrecken erkannte ich in ihm einen meiner früheren Meister, bei welchem ich auf meiner Wanderschaft gearbeitet hatte, dem ich jedoch davongelaufen war, wie er mich so grob behandelt hat. Ich fürchtete mich und gedachte rasch an ihm vorüber zu gehen; er gebot mir jedoch in seiner derben Weise, augenblicklich zu ihm zu kommen, worauf ich die Unvorsichtigkeit beging, ihm zu entgegnen, dass ich nicht mehr sein Geselle sei. Sofort nahm er mich mit zwei seiner Gehilfen gefangen und schleppte mich mit Gewalt in sein Haus, wo er mich unter schweren Drohungen zur Arbeit zwang. Ich seufzte in meinem Jammer zum Herrn und erhielt die  innere Anweisung meinen Willen zu opfern und mir alles in Demut gefallen zu lassen. In der Stillen Hoffnung, von diesem Prüfungsorte bald erlöst zu werden, gab ich mir alle Mühe, das Wohlwollen des gestrengen Mannes zu erringen; doch je emsiger und gewandter ich arbeitete, desto unzufriedener wurde der meister. Ich rang unaufhörlich um Kraft zur Geduld und zum Stillschweigen; denn mein alter Mensch bäumte sich heftig gegen die Ungerchtigkeiten, mit welchen ich fortwährend überhäuft wurde. Mein Gewissen sagte mir: Hättest du einst ausgehalten bei ihm in der dir von Gott bestimmten Schule, so

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müsstest du dich jetzt nicht mehr hier verweilen und könntest weiterziehen.

Während ich diesen Fehler aufrichtig bereute, wurde es mir leichter ums Herz; ich bekam Gnade, mir alles besser gefallen lassen zu können, und nach einiger Zeit forderte mich mein Widersacher zum Weitergehen auf. Dankbaren Herzens verliess ich soeben dieses Haus, doch ist mir jetzt bange vor neuen Versuchungen. Ach was wird alles noch kommen müssen, bis dass ich das während meiner Lebenszeit Versäumte nachgeholt habe! Dürfte ich wieder auf die Erde zurückkehren, wie ernstlich wollte ich dem Herrn dienen und mich der Heiligung befleissigen, ohne welche niemand zum Anschauen Gottes gelangen kann. Jetzt verstehe ich die Worte, dass man ohne Wiedergeburt nicht ins Reich Gottes eingehen kann, aus eigenster Erfahrung! O könnte ich es nur allen meinen Verwandten und Freunden ans Herz legen, dass sie doch ihre kostbaren Gnadenstunden allein zum Heil ihrer unsterblichen Seele benützen möchten!“
Gegen den Schluss der Erzählung meines Reisegefährten bemerkte ich in der Ferne ein grosses, weitläufiges Gebäude, das einer Anstalt glich, und ehe ich ihm für die Mitteilung seiner Lebensgeschichte danken konnte, waren wir am Tore angelangt, wo ein würdiger Mann stand, der nach uns auszuschauen schien. Er grüsste uns liebreich und wies meinem Begleiter ein Zimmer zu seinem Aufenthalt an, in das er unverzüglich eintrat. Der äusseren Erscheinung nach zu schliessen, war unser freundlichere Pförtner der Vorsteher. Er lud mich zu einem Besuche der Anstalt ein, und ich folgte ihm in fast mechanischer Weise auf dem Fusse nach.

Wir betraten zuerst das Erdgeschoss des Hauses, das mehrere Säle enthielt, die alle mit Jünglingen, jüngeren und älteren Männern angefüllt waren. Sie sassen nach Altersklassen an grossen Tischen und schrieben. Ehe ich zur Frage über ihre Tätigkeit kommen konnte, liess sich der Vorsteher mehrere Hefte geben, die er mir zur Ansicht überreichte. Sie

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enthielten eine Sammlung Schimpfwörter und Ausdrücke, die im gemeinen Leben an allen Orten gebräuchlich sind, Christen jedoch durchaus nicht mehr geziemen. Dieses Niederschreiben war nach meinem Dafürhalten eine Strafe, die den heilsamen Zweck hatte, die Zöglinge auf die ihnen noch anklebenden Fehler aufmerksam zu machen und zugleich die Begierde in ihnen zu erwecken, von ihren Unvollkommenheiten frei zu werden. Ich verwunderte mich im Stillen über diese weise Einrichtung, und als ich meinen Führer anschaute, bewegte er zustimmend das Haupt. Hierauf begaben wir uns in das erste Stockwerk und ich folgte einem inneren Antriebe, in das der Treppe nächstgelegene Zimmer zu treten. Zu meinem Erstaunen stand ich dort einen vor kurzem verstorbenen Freund im Bette liegen, der durch meinen Besuch sehr erfreut wurde, und mir in bezug auf seine Familie eine Prophezeihung mitteilte, die inzwischen richtig eingetroffen ist. Ich verabschiedete mich, trat auf den Gang hinaus, wo der Vorsteher auf mich gewartet hatte, und folgte ihm nach einem im Garten gelegenen Landhäuschen. Dort setzten wir uns nun zu vertraulicher Rede nieder. Ich konnte es mir nicht versagen, ihn um Auskunft über meinen Freund zu bitten, denn es kam mir doch zu sonderbar vor, dass er hier in der Ewigkeit noch wie krank im Bette liegen musste. „Auch fühlt er sich noch krank“, entgegnete der würdige Mann, „und zwar zur Strafe für seine Ungeduld während seiner letzten Leidenszeit; es wird nicht bälder mit ihm besser gehen, als bis eine völlige Ergebung in den Willen Gottes in seinem herzen eingezogen ist.“

„Dem Herrn sei Lob und Preis!“ fuhr er fort, „dass er eine ewige Erlösung erfunden hat; sonst würden die meisten Menschen verloren gehen, denn die wenigsten sind nach Ablauf ihres Erdenlebens völlig wiedergeboren, gereinigt, geheiligt und zubereitet, dass sie sofort eingehen könnten in die reinen Wohnungen des ewigen Vaterhauses. Hier an den Orten

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der Reinigung müssen sie sich oft noch lange, lange aufhalten und wachsen nur allmählich von Stufe zu Stufe, bis sie endlich ins Lichtsreich eindringen.

Man findet in diesen Räumen gar viele unvollkommene Christen, sogar manche in gläubigen Kreisen wohlbekannte Persönlichkeiten, die auf der Erde von vielen für hochselig gehalten werden. Ehe sie jedoch ins Reich Gottes Eingang finden, müssen sie zuvor von den ihnen noch anklebenden Eigenheiten befreit werden. Das geht hier sehr langsam von statten. Dann erst treten sie ihr ewiges Erbe an und ernten die Glaubenssaat des Tränentals.

Was hilft es den Menschen, wenn sie ihre Herzen verstrocken und den Zügen der Gnade beharrlich widerstreben? Sie müssen sich doch alle noch ergeben! Es fehlt dem Herrn durchaus nicht an Mitteln, auch die Widerspenstigsten zur Umkehr zu bewegen; die Ewigkeit ist reich an Schulen und Anstalten! Aber welche Kuren sind oft bei solchen nötig, deren stolze Herzen auch durch die schwersten Leiden der Zeitlichkeit nicht zu beugen waren! Was für entsetzliche Strafen muss die ewige Liebe hier bei vielen anwenden, um sie von dem Schlamm der Sünde, von den ehernen Ketten der niedrigsten Leidenschaften zu befreien! Kein Sterblicher könnte den Anblick dieses unbeschreiblichen Elends ertragen.Da rufen viele, die oft Hunderte, ja Tausende von Jahren, in der Finsternis schmachten: ‚O dass ich doch nie geboren wäre!’ Sie kommen auch nicht heraus, bis dass sie den letzten Heller bezahlt haben. Dann wenn ihr verdorbenes Wesen ausgebrannt ist im höllischen Feuer, und sie ihre Knie beugen vor dem Herrn, den sie einst von sich gestossen haben, fällt ein Strahl seiner göttlichen Liebe in ihr Inneres, und die erbarmende Hand Gottes führt solche Seelen von Grad zu Grad dem Lichte näher, bis sie endlich völlig wiedergebracht sind. Gott will, dass allen Menschen geholfen werde; alle sind von ihm ausgegangen, alle müssen wieder zu ihm zurückkehren.

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Welche Mutter könnte ungetrübt selig sein bei dem Gedanken an ihr Kind, das sie ohne jegliche Aussicht auf eine Rettung in der ewigen Verdammnis wüsste? Und was ist das menschliche Herz mit seinem Mitleid im Vergleich zur unergründlichen Liebe Gottes? Wie reimen sich unendliche Hüllenstrafen für Sünden einer kurzen Lebenszeit mit der ewigen Gerechtigkeit Gottes?

Durch die Wiederbringungsanstalten wird alles Kranke gesund, alles Tote lebendig gemacht. Wenn dann Gott alles in allen ist, gibt es keine Rebellen gegen die göttliche Ordnung mehr; keine gefallenen Menschen und keine abtrünnigen Engel; denn auch der Satan, welcher Tod und Hölle verursacht hat, muss sich zuletzt noch ergeben und das Erbarmen Gottes anrufen. Die Kraft des Blutes jesu durchdringt und verwandelt alles, und das Wort des Herrn geht in Erfüllung: ‚Siehe, ich mache alles neu!’ Wenn dann dieses grosse Wiederbringungswerk seine Vollendung erreicht hat, ist es nicht mehr notwendig, dass die Gottheit durch die Menschheit Jesu gemildert und zugänglich gemacht wird. Gott ist alsdann der Kreatur kein verzehrend Feuer mehr und wird sich allen mitteilen können mit dem ganzen Reichtum seiner Herrlichkeit. O was wird es sein, wenn alle Willen von Einem Willen gelenkt sein werden, und die ganze Schöpfung durch Gottes Leitung und Führung noch herrlicher dastehen wird als vor dem Sündenfall.

Mancher frühere Gegner der Wiederbringung, der sie in leidenschaftlicher Weise oft weniger aus Furcht vor Missbrauch, sondern mehr aus Eigensinn bekämpft und verworfen hat, beugt sich hier tief in den Staub und dankt dem Herrn für diese Gnadenanstalt, weil er in ihr allein noch Hoffnung zu seiner Rettung und einstigen Vollendung findet.

In alle Ewigkeit wird aber der Unterschied sichtbar sein zwischen den Seelen, die sich in der Gnadenzeit zubereiten liessen und solchen, die erst hier durch die Strafen und

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Reinigungsmittel wiedergebracht werden mussten. Jene sind geschmückt mit der Krone des Lebens, tragen Palmen in den Händen und bilden den himmlischen Adel; diese dagegen haben nur das Kleid des Heils und sind den Überwindern untergeordnet.“ –

Nach diesen wichtigen Aufschlüssen erhob sich der würdige Mann, von dem ich den Eindruck hatte, dass er zu denen gehöre, die, wie er mir selbst erklärte, in den Orten der Reinigung ihre Unvollkommenheiten noch abzulegen haben und dann erst ihr Erbteil empfangen. Es fehlte ihm in seinem jetzigen Amte gewiss nicht an Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen und in der Geduld, Sanftmut und Liebe völliger zu werden. Er nahm mich bei der Hand, geleitete mich zu einem an der entferntesten Ecke des Gartens befindlichen Pförtchen, wo er sich in gar freundlicher Weise von mir verabschiedete.

Ehe ich mich versah, befand ich mich inmitten einer Wüste in der nicht die geringste Spur von einem lebenden Wesen zu entdecken war. Überall unheimliche Dämmerung und Totenstille. Ich überliess mich willenlos der Leitung meines unsichtbaren Führers und kam nach einiger Zeit in eine Gegend, wo da und dort einzelne Seelen ruhelos und wie etwas suchend umherschwebten. Ich glaubte in der Ferne ein Gebirge wahrzunehmen und eilte darauf zu. Je näher ich demselben kam, desto zahlreicher wurden die Gestalten. Sie standen öfters gruppenweise beisammen und zählten zuletzt nach Tausenden. Ich gesellte mich zu einem Kreise, in dessen Mitte ein göttlicher Gesandter redete, der seine Herrlichkeit mit einem Wolkenmantel verbarg. Vor ihm stand eine bis in die tiefsten Falten blossgestellte Seele, die vor Scham das Haupt senkte und augenscheinlich hier verurteilt wurde. „Erinnerst du dich noch“, fuhr der ernste Richter bei meinem Hinzutreten fort, „wie hart und lieblos du und andere Gemeindeglieder einst über eure Schwester R. sprachen, weil sie nicht regelmässig an den Sonntagsversammlungen teilnahm? ‚Sie läuft der Welt nach,’ waren deine eigenen Worte; in Wirklichkeit aber sass dieses wahre Kind Gottes in

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ihrem Kämmerlein, weinte, betete und rang mit dem Herrn, der es in seiner Weisheit für gut fand, ihren Glauben durch bittere Armut zu prüfen, so dass sie öfters ihr sonntägliches Gewand verpfänden musste, um die nötigsten Bedürfnisse befriedigen zu können. Während du sie damals in pharisäischer Weise verdammtest, brachte sie dem Freund und Bräutigam ihrer Seele ihr Herz zum Opfer dar. Er neigte sich in jener Stunde gnädig zu ihr und weilte mit himmlischer Begleitung längere Zeit in ihrem Stübchen.

Auch über andere Gemeinschaften brachst du in deinem hochmütigen, selbstsüchtigen Wesen den Stab, und liessest dich sogar durch Wort und Schrift zur Verfolgung hinreissen. Das gefiel dem Herrn sehr übel. Seine heilige, alles umfassende Liebe wohnte nicht in deinem Herzen, sonst hättest du erkennen müssen, dass auch sie ihm angehörten, obgleich sie ein anderes Kleid trugen und scheinbar nicht mit dir denselben Weg wandelten; denn alle, welche ihn als den Sohn des lebendigen Gottes anerkennen, ihm dienen und nachfolgen, sind sein Eigentum und tragen den heiligen Jesusnamen auf ihren Stirnen, wenn sie auch nicht die volle Erkenntnis seines Wortes besitzen; denn alles Wissen auf der verdorbenen Erde ist ja nur Stückwerk.“ –

Es zog mich nun zur nächsten Gruppe, wo wieder einer in verhüllter Majestät seines heiligen Amtes waltete. Wie ich derselben nahe kam, erhob er eben seine rechte Hand und wies hinauf; da teilte sich die Dunkelheit, ein Lichtstrahl kam herab von oben und eröffnete dem Auge eine unermessliche Fernsicht. Auf einem sanftansteigenden Hügel stand ein weit hinaus strahlendes Schloss, das gleich einem Edelopal in allen Farben des Regenbogens schillerte. Im Umkreis von einigen Stunden lagen mehrere Städte von wunderbarer Schönheit und Ordnung, die zusammen ein himmlisches Fürstentum bildeten. Das Angesicht des Verurteilten bebte vor unendlichem Schmerz über das verscherzte

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Glück. Auf einen Wink des Richters verschwand das herrliche Bild, und die unglückliche Seele entfloh wie ein zuckender Blitz im Dunkel der endlosen Ferne. Furcht und Entsetzen erfasste mein ganzes Wesen, ich klammerte mich für dieses arme Geschöpf im Glauben an die tröstlichen Wiederbringungs-Verheissungen und eilte weiter.

Bald befand ich mich auf einem abwärtsführenden Pfade, auf dem mir einzelne, allem Anschein nach neuangekommene Seelen begegneten. Auf einmal ertönte hinter mir der freudige Ruf: „Jetzt kommt sie, auf, eilet ihr entgegen!“ Als ich mich umwandte, sah ich eine grössere Anzahl weissgekleideter Jungfrauen an mir vorüberziehen, die Blumengewinde in den Händen trugen; Engel führten und deckten den Zug. Ein unbeschreibliches Gefühl durchdrang mich beim Anblick dieser lichten, von himmlischem Glück strahlenden Gestalten, und der Wunsch, mich ihnen anzuschliessen, riss mich unaufhaltsam fort. Doch gar bald verlor ich sie aus den Augen; ich hatte die Empfindung des Sinkens und mein klares Bewusstsein begann sich zu trüben. Es erfolgte eine heftige Erschütterung und ich sass, wie aus einem Träume jäh erwachend, das Haupt auf die müde Hand gestützt, wieder am Fenster meines stillen Kämmerleins. Der Tag hatte sich schon längst geneigt; Nachtwolken bedeckten das ganze Firmament. –

Soll ich dies alles umsonst gesehen und gehört haben? Nein, mit neuem Eifer will ich nun der Heiligung nachjagen, ohne welche ja niemand den Herrn schauen kann. Mit seiner Kraft will ich aushalten in der Schule, welche er mir zur Reinigung und Läuterung verordnet hat, dass ich einst, wann meine Stunde schlägt, unaufgehalten und unangetastet, mit himmlischem Geleit eingehen darf in seine Herrlichkeit, in die Wohnungen des ewigen Friedens.Dazu verhelfe mir der treue Heilland um seiner Liebe willen.

Amen
 

 

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Ungerufen...  (in die Ewigkeit ge..... Anfügung durch die Redaktion)

Ewald, ein junger Kaufmann, starb an der Auszehrung. Als er sich noch ganz wohl fühlte, peinigte ihn schon zuweilen der Gedanke, der in seiner Familie wiederholt aufgetretenen Krankheit könnte auch er zum Opfer fallen. Mit allen Kräften suchte er diese leise Ahnung zu verdrängen; aber immer wieder tauchte sie in seiner Seele auf und trübte ihm die Freuden seiner Jugend. Das stand fest bei ihm und das war der letzte Trost und Ausweg, den er kannte: lieber freiwillig in den Tod gehen, als langsam hinsterben. Und weil sein Herz sich oft mit diesen Gedanken beschäftigte, sprach es sein Mund auch bei den Freunden aus. Seine Befürchtung war nicht ohne Grund. Eine starke Erkältung bildete den Anfang jener Krankheit, von der er nur scheinbar sich erholte; denn der zurückgebliebene Husten verlor sich nicht wieder. Ewald wurde immer bleicher und abgezehrter; die zunehmende Schwäche nötigte ihn zuletzt, seinen Beruf aufzugeben

und im fernen Süden Heilung zu suchen. Doch alles war vergebens; mit langsamen, aber sicheren Schritten ging es der ernsten Ewigkeit entgegen.

Er sehnte sich ins Elternhaus zurück und sein Wunsch wurde ihm auch gewährt. Da lag er nun, gepflegt von treuen Schwesternhänden; aber sein Herz war von unaussprechlicher Wehmut durchdrungen. Ach wie ganz anders kam ihm jetzt das Leben vor! Alles so flüchtig, so nichtig, so eitel! Seine einstigen Freunde besuchten ihn selten; er hatte auch kein Verlangen nach ihnen; sie konnten ihn ja weder trösten, noch das Sehnen seines Herzens befriedigen. In Gedanken durchstreifte er die weite Welt, aber nirgends fand er etwas zur Freude und Hoffnung seiner Seele, und nach allem Sinnen und Suchen wurde es ihm immer klarer: „Ich fühle einen Durst in mir, für solchen taugt kein Wasser hier“.  Nun war sein Herz zubereitet, den Trost des Wortes Gottes zu empfangen. Seine beiden Pflegerinnen – die einzigen Menschen seiner Umgebung, die ihn verstanden – bekamen nun die innere Freiheit, mit ihm über das Wohl und Heil seiner unsterblichen Seele zu reden. In vollen Zügen trank er das dargebotene Wasser des Lebens und hatte bald den Sünderfreund gefunden. Die Gebete seiner treuen Schwestern waren erhört; sie konnten trotz der Zunahme des schweren Leidens nur loben und danken.

Wie gerne lass er nun die Evangelien und Psalmen! Welche Fülle von Licht und Trost und Kraft fand er darin! Immer inniger und brünstiger wurde seine Liebe zu Jesu, und der feste Glaube an sein heiliges Nahesein erfüllte ihn mit unendlichem Frieden. So sehr er sich auch nach seinem Heiland und nach der ewigen Heimat sehnte, so war er doch dankbar für jeden weiteren Gnadentag; denn er erkannte je länger je mehr, dass er bis zur völligen Wiederherstellung des Ebenbildes Gottes in ihm noch vieles abzulegen und zu lernen habe. Das eine war ihm gewiss, dass alle seine Sünden in die Tiefe des Meeres versenkt seien, dass das teure Blut Christi alles rein gewaschen habe und seiner Schuld nicht mehr gedacht

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werde vor dem Herrn. Aber zu seiner grossen Bekümmernis entdeckte er in seiner Seele, dass die Lust zur Sünde immer noch vorhanden war; denn arge Gedanken stiegen zuweilen auch jetzt noch auf in seinem Herzen. Oft seufzte er im Stillen um Ausrottung aller Wurzeln und Fasern der angeborenen Verderbnis und bat um Kraft, das Böse stets im Keime zu besiegen. Und da der Geist Gottes ihn auf so viele Versäumnisse aufmerksam machte, so benützte er jede Gelegenheit, seine Liebe zu Jesu durch Selbstverleugnung und geduldiges leiden zu beweisen. Manche Erquickung, nach welcher er ein Verlangen hatte, und die ihm von den Seinigen mit Freuden bereitet oder gereicht worden wäre, versagte er sich, um dem alten Menschen mit seinen Lüsten und Begierden abzusterben; denn er fand, dass durch jede Überwindung das Leben des Geistes stärker wurde, wie umgekehrt jede Nachgiebigkeit und Untreue dasselbe schwächte.

Alle seine Gedanken wurden zu Gebeten. Er redete fast unaufhörlich mit dem Herrn, legte ihm

auch seine dem Reiche Gottes noch ferner stehenden Eltern ans Herz, gedachte liebend seiner Geschwister und Verwandten und flehte mit grosser Inbrunst für seine unbekehrten Freunde. 

Es  war ihm wohlbewusst, dass noch mancher Kampf ihm bevorstehen werde; doch es bangte ihm mehr vor sich selber, als vor der Steigerung seines beschwerlichen Leidens, denn er befürchtete, im Glauben nachzulassen und in der Hitze der Trübsal die Geduld und Ergebung in den Willen Gottes zu verlieren. Oft rang er mit dem Herrn für diese zeit und hielt sich mit Glaubenshänden an den herrlichen Verheissungen fest, die ihm auf seine Gebete durch Aufschlagen der Heiligen Schrift gegeben wurden. 

Sein Leiden wurde immer schwerer und schwerer und dauerte viel länger, als die Seinigen und selbst der Arzt vermuteten. Der grosse Schmelzer wollte das Gold durch und durch.

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läutern, um es in seinem heiligen Reiche zu verwenden; darum liess er es so lange in dem Tiegel. Seine Weisheit prüfte den Kranken auch öfters mit dem Gefühl der Verlassenheit; aber bei aller Dunkelheit und Anfechtung, bei aller inneren und äusseren Schwachheit verlor Ewald doch niemals den Glauben und legte sich immer wieder vertrauensvoll in die Arme der ewigen Liebe.

Der Zeitpunkt war nun gekommen, wo er nur noch seufzen konnte. Aber auch die Seufzer seiner geängsteten Seele nahm der Herr in Gnaden an; und zu einer Stunde, wo der Sterbende es nicht erwartete, lösten sich sanft und leise die Fesseln des Geistes. Engel trugen den treuen Kämpfer unter Begleitung von Seligen und einer Schar Jünglinge widerstandslos in die ewige Heimat. Die finstere Macht hatte jedes Recht an ihn verloren, darum bleiben auch die Schrecken des anderen Todes seinen Blicken verhüllte.

Die Seligkeit, die ihn erfüllte und umgab, übertraf seine einstigen Vorstellungen weit. Er erfuhr nun selbst die Wahrheit des Schriftenwortes: „Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, hat Gott bereitet denen, die ihn lieben!“ – als Aufenthaltsort war ihm bis auf weiteres der dritte Grad der ersten Stufe des Jünglingsparadieses angewiesen. In dieser Abteilung befanden sich ausschliesslich solche jungen Männer, die durch schwere, geduldig ertragene leiden zubereitet, im Alter von 18 – 25 Jahren in die Ewigkeit abgerufen worden waren. Der Zweck ihres Dort seins war, alles Feinsinnliche abzustreifen und nach und nach jene Reinheit und Klarheit anzuziehen, die innerhalb der Mauern des neuen Jerusalem wohnt.

Ein hervorragender Bürger der heiligen Stadt war als Vorsteher dieser Sphäre gesetzt, und hochselige Geister unterwiesen die Zöglinge in den mannigfaltigen Wahrheiten und Geheimnissen des Reiches Gottes. Die Wonne und das Glück dieses himmlischen Landes war unbeschreiblich gross.  Nirgends eine Spur von Eintönigkeit, überall ewigsprudelnde Quellen paradiesischer Freuden und Genüsse. Sunden freiwilliger Zurückgezogenheit und

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stillen Umgangs mit Gott wechselten mit gemeinschaftlicher Anbetung und Lobpreisung. Oftmals zogen auch die wissbegierigen Schüler scharenweise hinaus in die endlos scheinenden Fernen der Ewigkeitsgefilde und betrachteten und erforschten dort unter Führung ihrer Lehrer die unzähligen Wunder himmlischer Gottesoffenbarungen. Gesang, Musik, Malerei, Dichtkunst und manches andere wurden fleissig gepflegt und vervollkommnet; jedoch alle diese Künste hatten ausschliesslich die Verherrlichung des Gebers zum Ziele.

Gar manche Begabungen, die bei einzelnen zur Zeit ihres Erdenlebens verborgen geblieben waren, kamen hier im Lande des Lichts zur grossen Freude der Seelen zum Vorschein und wurden mühelos ausgebildet. 

Unter den himmlischen Freunden Ewalds befand sich einer, gegen den er eine besondere Zuneigung empfand. Ähnlichkeit des Charakters und der Lebensführung verband die beiden Jünglinge in einer Weise, die auch mit dem schönsten Ideal irdischer Freundschaft nicht verglichen werden kann. 

Als Ewald noch als Kaufmann im Kontor beschäftigt gewesen war, hatte der selige Manfred sich schon vom Geiste Gottes angetrieben gefühlt, für seinen zukünftigen Freund zu beten. Engel hatten ihm auch zuweilen Botschaft von ihm bringen dürfen, und als Ewald später auf dem Krankenbette gelegen hatte, war Manfred ihm oftmals als unsichtbarer Tröster nahe gewesen und hatte ihm Himmelslüfte zugefächelt. Beim Verlassen der Leibeshütte hatte er zunächst bei ihm gestanden und ihn im Namen der übrigen ihn einholenden Jünglinge begrüsst.

Ihre vom Herrn ihnen zugeteilten Besitztümer grenzten aneinander. Beide Anwesen hatten wie ihre Eigentümer grosse Ähnlichkeit miteinander, und doch waren wieder Unterschiede bemerkbar, entsprechend den verschiedenen Begabungen und Charaktereigenschaften der beiden Freunde. So oft sie sich zu einander hingezogen fühlten, besuchten sie einander

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wechselweise, beteten dann gemeinschaftlich, betrachteten miteinander die bis aufs Kleinste in Wort und Bild vervollständigte Heilige Schrift, oder sangen und musizierten zum Lobe des Herrn. Da sie beide einen besonderen Sinn für die Wunder Gottes in der Natur hatten, durchstreiften sie nicht selten Hand in Hand die Himmelsfluren. Immer wieder neue Gegenden und Schönheiten entdeckten sie auf ihren Wanderungen und hielten durch die Kunst des Malens gar manches Bildnis fest.

Bald nach einem herrlichen Feste des Himmels, da der König aller Könige mit seinen Heiligen auch ihre Seligkeitsstufe durchzog, hatten die beiden Freunde wieder das Bedürfnis, gemeinsam zu wandern und sich gegenseitig über die Eindrücke des himmlischen Triumphzuges auszusprechen.

Sie wählten zu diesem Gedankenaustausch eine bewaldete Anhöhe, die sie unlängst gefunden hatten und auf der sie die Liebe und Güte Gottes in einer besonderen Weise empfinden durften. Dort setzten sie sich am Rande des Waldes nieder und liessen die Majestät dieses erhabenen Ortes einige zeit stillschweigend auf sich einwirken. Die ganze Gegend erfüllte ein unaussprechlich wohltuendes Licht, und so weit das Auge reichte, erblickte man ein Grün und einen lieblichen Farbenschmelz, hinter dem alles Grün, alle Farbenpracht der Erde weit zurückbleibt. Selbst das Laub der Bäume und Sträucher erschien glänzend, Stamm, Zweige und Blätter waren durchleuchtet; alles war von Herrlichkeit durchdrungen und atmete Liebe und Frieden. In das geheimnisvolle Rauschen der von zarten Lüften bewegten Wipfel mischte sich in harmonischer Weise das einem Gebet gleichende Lied einer Nachtigall. Nah und fern blühten unzählige Blumen, deren Formen, Farben und Wohlgerüche nicht mit menschlichen Worten geschildert werden können. Die ganze Schöpfung forderte zum Preise dessen auf, der alles so herrlich erdacht und geschaffen hat, und die beiden Freunde zögerten nicht, sich in tiefer Demut vor

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unsichtbaren Gott zu beugen. Als sie sich vom Gebet erhoben hatten und in himmlischer Eintracht beieinander sassen, begann zuerst Manfred von dem zu reden, was er beim Durchzuge des Herrn empfunden hatte. Wie vieles sagte ihm der Liebesblick des Heilandes, der ihn so mächtig erfasst hatte und den er nimmer vergessen konnte! Auch Ewald hatte beim Anschauen dessen, der für ihn in den Tod gegangen, der ihn mit unendlicher Liebe zu sich gezogen, ihm durch Krankheit und Tod so gnädig hindurchgeholfen hatte, unaussprechliche Empfindungen. Die unverdiente Liebe des Herrn, die ihnen immer grösser und anbetungswürdiger wurde, als sie ihre Lebensgeschichte von Kindesbeinen bis zu ihrer gegenwärtigen Seligkeit an sich vorübergehen liessen, bildete den Hauptgegenstand ihrer Unterredung. Sie achteten dabei besonders auf die unermüdliche Treue, mit welcher der gute Hirte sie geführt, beschützt und bewahrt hatte. Eine gewisse Bangigkeit überkam ihre Herzen, wenn sie nun aufs klarste erkannten, welch grossen Gefahren der Seele und des Leibes sie oft ausgesetzt gewesen, die allein durch die Gnade und Fürsorge Gottes abgewendet worden waren. Sie fühlten sich dadurch zu ewigem Danke verpflichtet, und ihre Liebe zum Herrn steigerte sich mit jeder neuen Entdeckung seines unergründlichen Erbarmens. 

Die Schilderungen Manfreds von seiner irdischen Heimat veranlassten Ewald zu mancherlei Fragen; und da er innigsten Anteil an der Lebensführung seines Freundes nahm, auch für dessen Familie betete, so stieg der Wunsch in seinem Herzen auf, ihn auf die Erde zu begleiten. Manfred las dieses in der Seele Ewalds. Fragend richtete er den Blick nach jener Gegend, von der das Licht des Himmels auszugehen schien, und empfing sofort im Innern die Antwort: „Gehet hin, es ist mein Wille!“ Die beiden Freunde umarmten sich und schwebten nun mit Gedankenschnelle nach jener Richtung, wo in weiter Ferne die himmlische Helle etwas erblasste. Sie durchflogen die Heiligungsstufen, dann deren Vor-

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hallen und zuletzt die Räume der Reinigung, vor denen sie sich vermittelst der schöpferischen Macht des Willens verhüllten. Als sie die Erde erreichten, war es Mitternacht und Vollmond. Ihr erster Gang war ein Besuch in Manfreds Elternhause. Ewald besah unter Führung seines Freundes die einzelnen Örtlichkeiten, die ihm aus Manfreds Lebensgeschichte wohlbekannt waren; unter anderem betrat er auch das Kämmerlein, in dem derselbe zum erstenmal die Knie vor Gott gebeugt und nach vielen Irrwegen Vergebung, Trost und Frieden gefunden hatte.

Gottesacker....  wo der Keim seines Auferstehungsleibes...

Längere Zeit verweilten sie am Bette seiner Mutter, die seit dem Heimgang Manfreds of an die Ewigkeit dachte, aber durch ihren weltlich gesinnten Mann sich immer wieder abhalten liess, das eine, das allein Not ist, mit ganzer Entschiedenheit zu suchen. Ein Blick an das Lager des jüngsten Bruders trieb die beiden Freunde zu besonderer Fürbitte an. Dort stand eine fürchterliche Gestalt, deren Aussehen kein Sterblicher ohne Schaden ertragen könnte. Es war ein Satansengel, den die Leidenschaften dieses unglücklichen Jünglings angezogen hatten und

der nun sein ständiger Begleiter war.  Er warf Blicke des Zornes und des Hasses nach den beiden älteren, gottsuchenden Brüdern und sprühte Feuer, als die seligen Geister seinem Opfer sich näherten. Manfred schaute betend empor, breitete die Hände zum Segen über die Seinigen aus und küsste die ihm geistverwandten Brüder auf die Stirne. Hierauf verliessen sie das Haus, nachdem sie zuvor in einem anderen Gemache ein längst verstorbenes Familienglied ermahnt und getröstet hatten das durch seinen irdischen Sinn nun über ein Jahrhundert an seinem ehemaligen Besitztum hängen geblieben war, und begaben sich zunächst auf den Gottesacker. Manfred zeigte seinem Freunde die Stätte, wo der Keim seines Auferstehungsleibes auf die Vollendung seiner Seele wartete. Ein schlichtes Kreuz auf einem Felsblock trug das Schriftwort: „Mir ist Barmherzigkeit  widerfahren. 1. Tim. 1, 13“.

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Auf der Vorderseite des Granitsteins waren Name, Tag, Monat und Jahr der Geburt und des Todes eingegraben; die auf der Rückseite des Denkmals eingelassene Tafel enthielt die von Manfred auf seinem Sterbebette verfasste Anrede:

 “Lieber Wanderer!

Von Fleisch und Blut, wie du noch bist,

so war auch ich ja einst;

bedenke, dass in kurzer Frist,

wohl bälder als du meinst,

auch du wie ich bist Asch’ und Bein, -

wo wird dann deine Seele sein?“

Verwundert schauten die ruhelosen Geister des Friedhofes nach den beiden lichten Gestalten, deren himmlische Schönheit durch ihre Wolkenhülle drang. Manfred wandte sich mit seinem Begleiter nun seitwärts. Der Weg führte durch eine Schlucht auf einen hohen Berg, den eine Schlossruine krönte. In wenigen Sekunden waren sie oben. Dort lehnte an der halb zerfallenen Mauer die Gestalt eines Jünglings und blickte wehmütig ins Tal hinab. Es war der Geist eines Studienfreundes von Manfred, der um einer unglücklichen Liebe willen ungerufen in die Ewigkeit gegangen war. Sieben Jahre waren seit dem unseligen Schritt vergangen, und was hatte er alles in diesem Zeitraum erlebt und erfahren, von dem Millionen leicht dahinlebender Menschen keinen Begriff, ja nicht die geringste Ahnung besitzen! Sein einstiger Lieblingsplatz war ihm zum Gefängnis geworden, in das er zur Strafe für die dort begangene Tat immer wieder zurückkehren musste. Wie gross war sein Entsetzen gewesen, als er nach jenem Schuss im Geisterreich erwacht war und sich selbst in seinem Blute hatte liegen sehen! Wie gerne wäre er geflohen, doch ach, ein unsichtbares Band hatte ihn mit Macht zu seinem Körper hingezogen und festgehalten. Sein zartfühlendes Gemüt, das stets alles Schauderhafte gemieden hatte, war immer noch vorhanden gewesen und jetzt mehr als je hervorgetreten. Immer klarer hatte er erkannt, dass der Leib nur ein Kleid der Seele, ein Werkzeug zur Offenbarung des geistigen Menschen ist. Mit Schrecken war er gewahr geworden, dass Hass und Liebe, Leidenschaft und Tugend im Innersten der Seele wohnen und nicht mit dem durchbohrten Herzen sterben.

Unsägliches hatte er bis zur Auffindung seines Leichnams empfunden. Er hatte die Männer bedauert, die ihn holen, und es ihnen nicht verargt, dass sie nur mit Scheu sich seiner Hülle näherten. Er hatte ihnen danken wollen für ihr Mitleid und für all die Mühe, die er ihnen machte; aber sie hatten seiner gar nicht wahrnehmen können, weil sie nur die zerbrochene Schale erblickten, für den eigentlichen, unzerstörbaren Menschen jedoch kein offenes Auge hatten.

Schon nach seinem Erwachen in der Geisterwelt hätte der Unglückliche gerne seine Tat ungeschehen gemacht; und wie viel mehr hatte er den unüberlegten Schritt bereut angesichts des Schmerzes, den er den Seinigen bereitete. Er hatte gezittert und gebebt, als sein Leib auf der ihm wohlbekannten Bahre dem Elternhause näher gebracht worden war. Mit tausend Freuden würde er sich im vielgeglaubten Nichts verloren haben, wenn es möglich gewesen wäre; aber immer wieder hatte er zu seinem Körper schweben und Zeuge alles Jammers sein müssen.Mehrere Wochen nach der Beerdigung, während der er bald bei seinem Leichnam, bald an dem Orte seiner Tat hatte verweilen und vieles unsichtbare Elend hatte kennen lernen müssen, führte ihn eine lichte Gestalt in ein stilles, schwacherleuchtetes Tal, wo er sich etwas wohler fühlte. Sein dortiger Aufenthalt war ein gewisser Ersatz für die Zeit des Schlummers im Leibesleben. Doch nur zuweilen zog es ihn dorthin, und immer wieder musste er auf die traurige Erde zurück. An die Welt gekettet sein, alles sehen, hören und

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empfinden müssen, und doch ihr nicht anzugehören, wie schrecklich war dieser Zustand!

der jugendliche Selbstmörder litt schwer...

Die Hülle seines unsterblichen Geistes, die wir Seele nennen, und die es in Wirklichkeit ist, die im Fleische vermittelst der Nerven empfindet, war zur Vergeltung seines barmherzigen Sinnes; dennoch litt der jugendliche Selbstmörder schwer unter den Unbilden der Witterung. Es wurde ihm an jenem zeitweiligen Ruheort eröffnet, dass die Vorsehung Gottes ihm ein Alter von 68 Jahren zugemessen habe und dass er erst nach Ablauf dieser Frist die Welt verlassen könne.

er nie darin vermutet hatte....

In den bereits verstrichenen Jahren hatte er die namenlose Torheit der vollbrachten Tat immer mehr erkennen können; denn er konnte, als ein der groben Körperhülle entbundener Geist, auch die Gedanken lesen. Da hatte er nun gesehen, dass die Liebe des ihm einst so teuer gewesenen Mädchens, deren Besitz ihm in brutaler Weise verweigert worden war, nicht rein und treu wie Gold war, wie er geglaubt hatte. Er hatte so manches in ihrem Herzen gefunden, das er nie darin vermutet hatte, und hatte mit ansehen müssen, wie sie ihn im Besitz einer anderen Liebe schnell vergass. Es war ihm auch gezeigt worden, dass der aus Gott geflossene Geist des Menschen niemals bei einem Geschöpf wahre und dauernde Befriedigung finden kann, selbst wenn es die frömmste und tugendhafteste Seele wäre, und dass deshalb jede Neigung des Herzens der Liebe zu Gott untergeordnet sein müsse. Er lernte bald einsehen, dass er mit diesem Mädchen nicht glücklich geworden wäre; und diese Erkenntnis machte ihn versöhnlicher. Dass ein Mensch dem andern nur so viel Treue halten kann, als er Gott treu ist, war ein weiterer Aufschluss für ihn, der den Glauben an die vermeintliche Festigkeit seines Charakters nicht wenig erschütterte und ihn demütigte.

Was sah und empfand er alles, wenn ihn das marternde Gewissen zu jener Stelle zog, wo

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er gewaltsam durch die Hülle brach. Da sass er dann und sah zu seiner Strafe die Bilder seiner Tat an sich vorüberziehen. Und während er im tiefsten Schmerze in den öden Räumen trauerte, zogen fröhliche Scharen junger Leute unter Sang und Klang an ihm vorüber. O wie gerne hätte er sie gewarnt, ermahnt und auf den rechten Weg gewiesen; aber sie sahen ihn ja nicht und er durfte sich ihnen auch nicht kundgeben. Wenn er zurückdachte an die Zeiten, in denen er an dieser Stätte in jugendlicher Begeisterung romantische Geschichten gelesen und später in fremden oder eigenen Poesien geschwelgt hatte, so sehnte er sich heiss zurück ins arme Erdenleben. Wie wollte er so vieles besser machen und seine Gaben nur zur Ehre Gottes und zum Wohl und Heil der Menschheit verwenden! Wie elend und erbärmlich kamen ihm jetzt viele sogenannten Perlen der Dichtkunst vor; denn kein einziges Wörtlein des Trostes fand er in seinem mit Versehn aller Art bereicherten Gedächtnis. Alte Bibelsprüche, welche er einst gelegentlich humoristischer Reden zuweilen unter seine Phrasen mischte, suchte er nun mühsam hervor und erquickte sich an ihnen. Das Trostlied, das eine arme Holzsammlerin auf dem Heimwege sich zur Aufmunterung sang, war ihm jetzt nützlicher als der gesamte Inhalt seiner Klassiker. Klar und deutlich lag es nun vor seinen Augen, wie blind die Menschen sind und wie verkehrt ihr Treiben ist; denn er wusste es ja von sich selbst. Alles wird erforscht, erlernt und bis zur Kunst gesteigert, und ach, die meisten wissen nicht, woher und wohin und was der Zweck des Lebens.

Als die seligen Geister sich ihm näherten, ging er ihnen entgegen und erkannte also bald Manfred, seinen Studiengenossen. Schon öfters hatte er an ihn gedacht und die Abneigung, die einst bei der Bekehrung dieses Freundes in ihm Raum fand, war durch seine schweren Erfahrungen in der unsichtbaren Welt längst verschwunden. Er schämte

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sich seiner damaligen Spottreden, und die ersten Worte, die er nach der Begrüssung redete, waren Entschuldigungen, die bei dem liebevollen Entgegenkommen Manfreds sich zur förmlichen Abbitte steigerten. Ach, es war ihm so wohl in dieser himmlischen Umgebung; er fühlte sich auch so sicher vor den bösen Geistern in der Luft und auf der Erde, die ihn oft verhöhnten und vom Beten abhielten. Er bat inständig um die Fürbitte der beiden Seligen; denn in seiner Familie dachte niemand daran, ihm das Almosen eines ernstlichen Gebets zukommen zu lassen. Alle seine Anstrengungen, wie Klopfen und Erinnern durch Träume, waren bei den Seinigen bis jetzt vergeblich gewesen, teils um ihres Unglaubens willen, teils weil die erforderliche Anlage, geistiges wahrzunehmen, bei ihnen nicht genug entwickelt war.

Auch diese Seele konnte die begangene Tat nicht genug beklagen...

Manfred und Ewald versprachen seiner zu gedenken, und sie trösteten die arme Seele, so viel sie innere Freiheit dazu fühlten. Indem die Seligen noch redeten, näherten sich auch noch andere Geister. In geziemender Entfernung lauschte heilsverlangend ein Mann, der einst aus Mangel an Gottvertrauen sich gehängt hatte. Lange Zeit war er im Walde umhergeirrt, bis er einen Forstwächter fand, dem er sich nähern konnte. Derselbe sah ihn zwar nicht, doch hörte er ihn reden. Dieser mitleidige Mann betete zuweilen für ihn, was ihm Erleichterung brachte. Die beiden Freunde erlaubten dem heimatlosen Geist näher zu treten. Auch diese Seele konnte die begangene Tat nicht genug beklagen; denn das namenlose Elend ihres Zustandes steigerte sich noch in beträchtlicher Weise, als der Unglückliche nach seinem Tode sah, dass es Gott durchaus nicht an Mitteln und Wege gefehlt hätte, ihn und seine Familie durchzubringen. Mit tausend Freuden hätte er nun die einstige Armut wieder auf sich genommen, auch wenn es die Weisheit Gottes für gut befunden hätte, ihn ferner aufs Höchste zu prüfen.

Der Wert der Gnadenzeit wurde den Selbstmördern unter den Zusprüchen der beiden Seligen immer noch wichtiger. Und als die Armen von der Herrlichkeit des Himmels hörten,

...Geduldig ausharren trotz allem Spott...

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wie köstlich Gott auch die geringste Treue lohnt, erkannten sie erst recht den unersetzlichen Verlust. Doch schieden die Verklärten nicht von ihnen, ohne das Gemüt der Tiefbetrübten durch Hoffnungssterne zu erhellen. Geduldig ausharren trotz allem Spott der bösen Geister bis zu der von Gott bestimmten Stunde, dann in den Besserungsanstalten der Ewigkeit sich durch und durch reinigen lassen, um einst tauglich zu werden für die Wohnungen des Friedens, - das war nun die Aufgabe dieser armen Seelen und ihre Aussicht in die noch fernliegende Zukunft. 

gleichfalls abgesehen gehabt, sie durch Selbstmord...

Tief ergriffen von dem mannigfachen Elend der Erde sehnten sich Manfred und Ewald wieder zurück auf die himmlischen Fluren. Die Gewissheit, dass sie all dem Jammer der Zeit und der unseligen Geisterwelt auf immer und ewig entrückt waren, erfüllt ihre Herzen mit einem unaussprechlichen Dankgefühl. Gnade war es, unverdiente Gnade, Barmherzigkeit und göttliche Bewahrung, dass sie sich jetzt nicht auch in solch unglücklichem Zustande befanden wie diese armen Seelen. Auf beide Freunde hatte es die Macht der Finsternis gleichfalls abgesehen gehabt, sie durch Selbstmord um die Krone des Lebens zu bringen; aber Jesus war Sieger in ihnen geworden, weil sie seine Gnadenhand noch in der Stunde der Entscheidung im Glauben hatten erfassen können. Wohl hatten sie während ihres Erdenlebens nicht viel gesät, weil sie den grössten Teil ihrer Zeit im Dienste der Welt zugebracht hatten. Doch hatte der himmlische Schmelzer noch Grosses an ihnen gewirkt und unbewusst waren sie in ihren schweren Leidenstagen vielen zum Segen geworden. Die Eindrücke, welche sie durch ihr geduldiges Leiden, durch das freudige Bekennen des Sünderheilandes, auf ihre Umgebung und so manche, oft ungläubige Besucher gemacht hatten, und die selbst im Feuer der Hölle nicht vergessen werden können, sicherten ihnen edle Früchte zu, welche sie nun zum Preise Gottes geniessen durften.

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Der Weg zur oberen Heimat führte die Himmelsbürger wieder durch die Orte der Reinigung. Als sie durch dieses Tal des Todes eilten, empfanden sie ein tiefes Mitleid für die Seelen, die in diesen schweren Schulen von allen ihnen noch anklebenden Fehlern und Mängel gereinigt werden müssen. Tausende und aber Tausende irdisch gesinnter Geister, und ungezählte Scharen von Namenchristen weilen hier, um das Versäumte nachzuholen.

Aber unter welch erschwerten Umständen! Denn jede Seele liest dort in der andern, was eine andere denkt und wie sie zu ihr steht. Welche Auftritte sahen da die beiden Freunde mit einem einzigen Blick! Alle die vielen schwierigen Lagen, in denen der Mensch sich oft auf der Erde befindet, um geläutert und veredelt zu werden, sind hier wieder vorhanden. Da aber die Hülle gefallen und das Innerste des Herzens aufgedeckt ist, hat der Zank und der Streit kein Ende. Der Engel, der den Menschen durch das Leben begleitet, ist seines Amtes entbunden und die Seele nun schutzlos preisgegeben. Wer sich nicht alles geduldig und stillschweigend gefallen lassen kann, hat keine Hoffnung auf Befreiung. Viele, die infolge ihres unbeugsamen Sinnes oft mehrere Menschenalter in den allertraurigsten Lagen sich befinden, zweifeln, ob überhaupt noch eine Erlösung möglich sei. Ihre einstigen Verhältnisse, die oft keineswegs beneidenswert waren, kommen ihnen hier als goldene Freiheit vor. Am schwersten ist es für die Stolzen, hoch und nieder; dieser Hohn und Spott, den sie ertragen müssen! Es fehlt wahrlich nicht an Mitteln, die Herzen von dem allem zu befreien, was nie und nimmer in die reinen Himmel taugt.

Manfred und Ewald gedachten beim Durchflug dieser Räume, die im Vergleiche mit den Höllenstufen noch Ruheorte sind, an die beiden Selbstmörder, auf die nach langer, banger Harrenszeit hier noch so manches wartete. Sie nahmen sich vor, nicht müde zu werden, auch diese Seelen dem Herrn vorzutragen. Ganz besonders wollten sie künftighin für solche Jünglinge im ...

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... Gebet einstehen, die im Besitze aller Geisteskräfte, aus irgend einem Grund ungerufen aus dem Leben schieden, und darum unstet und flüchtig noch auf Erden schweben. Als die beiden Reisenden die Pforte der Heimat wieder erreichten, kamen ihnen eine Schar verklärter Freunde entgegen. Von unaussprechlicher Liebe zu ihrem himmlischen König durchdrungen, kehrten sie unter Lob- und Dankgesängen gemeinsam in das Jünglingsparadies zurück.

O Ewigkeit, du Freudenwort,

das mich erquicket fort und fort!

O Anfang sonder Ende!

O Ewigkeit, Freud ohne Leid!

Ich weiss vor Herzensfröhlichkeit

Gar nichts mehr vom Elende,

weil mir versüsst die Ewigkeit,

was uns betrübet in der Zeit.

Kaspar Heunisch 1620 – 1690

(Neues Württembg. Gesangbuch)

 

Joseph Hahn:  Ein Blick in die himmlische Heimat. – Teil 4

Sie gewahrten in der Ferne ein strahlendes Tor von unbeschreiblicher Schönheit... (siehe Vorwort)

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Die letzten Tage des Spätherbstes waren vorüber. Ein schneidender Nordwind hatte sich erhoben und spielte mit zarten Schneeflöckchen, die lautlos und friedlich zur Erde niederfielen. Immer dichter wurde das Gewimmel, in kurzer Zeit war Stadt und Land in blendendes Weiss eingehüllt.

Zum ersten Male fiel der Schnee auf das stille Grab Lydias, deren frühen Heimgang ihr Zwillingsbruder Jonathan immer noch schmerzlich beklagte. 

Mit tiefer Wehmut gedachte er der frommen Schwester, die ihm durch ihr verborgenes leben mit Christo in Gott so oft zum Segen geworden war. Immer und immer wieder liess er die Bilder der Vergangenheit an sich vorüberziehen und erlabte damit seinen ermatteten Geist. Ach wie weit hatte er noch bis zu jener reinen, heiligen Jesusliebe, von der die teure Entschlafene bis zum letzten Atemzuge durchdrungen war! Er fand noch so viel                                                                                                     

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Ungöttliches in seinem Herzen und sehnte sich unter der Last seiner täglichen Untreuen nach der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Mit Vorliebe stand er abends, bevor er sich zur Ruhe niederlegte, am offenen Fenster und machte sich beim Anblick der unzähligen Sterne allerlei Gedanken über die obere Heimat, wo Lydia schon mehr als sechs Monate weilte.  

In diesen letzten Wochen vor ihrem Hingang hatte sie ihm versprochen, mit Erlaubnis des Herrn ihm im Traume zu erscheinen, aber immer noch hatte er kein Lebenszeichen von ihr erhalten. Sollte sie ihr Versprechen vergessen haben? Oder war sein Wunsch gegen den Willen und die Ordnung Gottes? Diese und ähnliche Fragen beschäftigten ihn oftmals; aber auch quälende Zweifel durchblitzten sein zaghaftes Gemüt, die zwar angesichts des leuchtenden Firmaments niemals festen Fuss zu fassen vermochten. Doch je länger die erhoffte Kundgebung ausblieb, desto besser lernte er das Glauben ohne Schauen, und er begnügte sich zuletzt mit den schönen Vorstellungen des Wiedersehens, welche von Zeit zu Zeit wie leise Ahnungen in seiner Seele aufstiegen. 

Nach einem vielbewegten Tage legte er sich mit müdem Körper und Geist frühe zu Bette und beschäftigte sich bis zum Einschlummern mit den Erlebnissen der vergangenen Stunden. Sein inwendiger Mensch war zu schwach, um sich über das Irdische emporzuschwingen, und seufzend erbat er Kraft, Erquickung und Trost für die Aufgaben des künftigen Tages. 

Die ewige Liebe, die alles sieht und weiss und über Bitten und Verstehen gibt, fand in ihrer Weisheit diesen Zeitpunkt für geeignet, den nun gereinigten Wunsch Jonathans erfüllen zu können und erlaubte der verklärten Lydia, ihren Bruder in einem Traumgesicht zur himmlischen Heimat zu führen. Freudestrahlend flog sie hinab auf die sündige Erde und eilte zum Lager ihres Bruders, der sie nach leiser Berührung sofort mit den Augen des Geistes erblickte. Sie winkte ihm zärtlich; er vermeinte sich zu erheben und anzukleiden und folgte mit frohem Erstaunen der lichten Gestalt der Schwester,

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die ihn voll inniger Liebe umfasste, mit einer Wolke sorgsam verhüllte und in raschem Fluge aufwärts trug. Bald lag der Erdball tief unter ihren Füssen; grösser und heller wurden die Sterne; ihr wunderbares Licht durchdrang die Wolkenhülle Jonathans, der von der Grösse und Allmacht Gottes überwältigt, einen Lobgesang anstimmte. Endlich gewahrten sie in der Ferne ein strahlendes Tor von unbeschreiblicher Schönheit. Am Portale standen zwei majestätische Engel und hielten Wache; sie grüssten die beiden Geschwister in holdseliger Weise mit den Worten: „Friede sei mit euch!“ Lydia glänzte beim Eintritt in die himmlische Heimat stärker; sie trug ein Faltengewand von weisser Seide nach Art und Sitte des Morgenlandes. Ein goldener Gürtel umgab ihre Hüfte, der wie der Kranz auf ihrem Haupte mit Edelsteinen reich besetzt war. Ihr aschblondes, leicht gekräuseltes Haar umspielte das schöne Oval ihres Angesichtes, dessen anmutigen Züge Reinheit und Liebe ausdrückten. 

Jonathan konnte die Herrlichkeit fast nimmer ertragen, seine Augen waren geblendet. An der Hand seiner Schwester gelangte er zu einem kristallhellen Bächlein voll Wassers des Lebens, wo er sich stärkte; dann eilten sie gemeinsam einen Hügel hinan, von dessen Höhe man einen grösseren Teil der paradiesischen Gegend übersehen konnte, wo Lydia seit dem Verlassen ihrer Leibeshütte sich aufhielt. Wohin sie blickten, war Friede, Ruhe, Freude, Licht und Leben. Prächtige, perlmutterfarbige Paläste verschiedener Grösse erhoben sich aus dem smaragdgrünen Wiesengrunde, der von glitzernden Bächlein wie mit Silberfäden durchzogen war. Parkähnliche anlagen umgaben diese Meisterwerke überirdischer Baukunst, deren erhabener Stil jede menschliche Vorstellung weit überstieg. Ein leiser Zephyr säuselte aus dem Osten und verbreitete die köstlichen Wohlgerüche, die den himmlischen Fluren entströmten. Es lag ein unaussprechliches Glück über diesen Garten Gottes ausgegossen, das jedes Erdenleid, den herbsten und den tiefsten Schmerz, in wenigen Augenblicken vergessen liess.

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„Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Ein Tag in Deinen Vorhöfen ist besser denn sonst tausend!“ rief Jonathan in heiliger Begeisterung aus, bückte sich und betete den Herrn an; doch empfand er im Grunde seiner Seele, dass er noch nicht rein genug für diese Herrlichkeit sei. Er war sich halb und halb bewusst, dass er träumte und fürchtete daher, durch ein plötzliches Erwachen seiner Wonne und Seligkeit beraubt zu werden. Da dieser unausbleibliche Moment sich jedoch zu verzögern schien, so genoss er die Freuden seines wunderbaren Aufenthalts in vollen Zügen und bemühte sich zugleich, das Erlebte fest ins Gedächtnis zu prägen. Je länger aber sein Blick auf dieser unvergleichlichen Landschaft ruhte, desto grösser wurde seine Sehnsucht, ewiglich hier zu verbleiben; das Bewusstsein, zurückkehren zu müssen, lag deshalb wie ein schwerer Stein auf seinem Herzen, das noch die Furcht vor dem Tode des alten Menschen und seines vergänglichen Leibes in sich trug.

Lydia erriet die Gedanken und Gefühle, die ihren Bruder bewegten; sie legte ihren Arm vertraulich auf seine Schulter und sagte: „Nur Mut, Jonathan! Noch eine kleine Spanne Zeit, dann sind wir für immer verbunden, dann kann unserer Freude durch nichts mehr getrübt werden! Benütze die kostbaren Gnadenstunden, die dir noch zur Reinigung und Heiligung zugemessen sind, dass auch du einst mit Kleidern des Heils angetan werden kannst von dem Herrn und würdig bist, vor seinem allerheiligsten Angesichte zu erscheinen. Wie danke ich unserem treuen Heiland für alles, was er zu meiner Läuterung und Verherrlichung zugelassen hat! Kein einziges von den vielen Leiden würde ich jetzt abtreten, nachdem ich ihren Wert im Lichte der Ewigkeit erkannt habe. Sie alle, auch jene fast unerträglichen Schmerzen auf meinem langen Krankenlager, waren Unterpfänder seiner Liebe und sind mir zu nie versiegenden Quellen himmlischer Freuden geworden. 

Sieh jene fröhlichen Jungfrauen, die dort Arm in Arm das schöne Wiesenthal

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entlang gehen! Sie zählen zu meinen Gespielinnen. Das zur Linken wandelnde Mädchen des letzten Paares starb im Alter von zwei Jahren und wurde im Kinderparadiese erzogen. Auch ihr Haupt umgibt ein Kranz von unvergänglichen Blumen und ihr Gewand vom blassesten lila schimmert, als wäre es mit Tautropfen besät; doch fehlen die leuchtenden Steine, die Zeichen der in Liebe und Geduld ertragenen Leiden. Dennoch wohnt kein Neid in ihrer Seele, wie es ihr wohlbekannt ist, dass sie bei längerer Lebensdauer auf der versuchungsreichen Erde ihre gegenwärtige Herrlichkeit nicht erreicht hätte.  

Der Herr würdigte mich.... seiner inneren Leiden teilzunehmen... 

Erinnerst du dich noch, wie ich dir so manchmal anvertraute, dass ich mich oft so allein und verlassen fühle? Ach, wie kurzsichtig ist der Mensch im sterblichen Leibe, wie blind für die geistige Umgebung! Damals war ich fast immer umringt von Seligen und Engeln, die Lieder des Dankes sangen, weil mich der Herr würdigte, an der Gemeinschaft seiner inneren Leiden teilzunehmen. Er selbst war mir oft nahe und stärkte meinen Glauben auf eine mir verborgene Weise, obwohl ich seine heilige Gegenwart nicht empfand. 

Zwar hatte ich im Grunde des Herzens die Versicherung der Vergebung meiner Sünden und hoffte, aus Gnaden selig zu werden, fürchtete mich aber gleichwohl heimlich vor dem Sterben. Auch in diesem ernsten Augenblick half mir der Herr gnädig hindurch. Unvermutet überfiel mich eine grosse Schwäche und während meine Glieder vor Kälte erstarrten, wurde es trübe und zuletzt Nacht vor meinen Augen; ich hörte noch eine Weile das Weinen der lieben Mutter und verlor dann allmählich die Besinnung. Auf einmal wurde mir so leicht und so wohl, wie mir’s noch niemals gewesen war. Mir war, als stände ich im Traum vor meinem Bette und sähe mich selbst schlafend daliegen; euch sah ich an m einem Lager mit nassen Augen und traurigen Mienen stehen. Schon fasste ich den Entschluss, dieses sonderbare Bild beim Erwachen aufzuzeichnen, da traten zu mir zwei hohe Gestalten von

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überirdischem Glanze mit Siegespalmen in den Händen und sagten mit einem Lächeln voll Himmelswonne und Seligkeit: „Komm, Seele, du hast ausgerungen und bist zum Lichte durchgedrungen, komm heim ins wahre Vaterland!“ Ich schaute umher, da waren viele unserer zum Teil längst vorangegangenen Verwandten, die mich begrüssten und umarmten. Die selige Grossmutter führte unser frühverstorbenes Schwesterlein herbei, das nun zur blühenden Jungfrau herangewachsen war, und sagte mir die Namen der Teuren, die mich abholen wollten. Jetzt wurde mir klar, dass ich ausgekämpft hatte, und mein Herz jauchzte vor Freude und Glück. Ich nahm nach den liebreichen Ermahnungen der beiden Führer, auf meiner Heimfahrt mich durch nichts aufhalten zu lassen, Abschied von euch; doch ihr hattet kein Auge und kein Ohr für eure verklärte Lydia, die mitten unter euch wandelte. Wir erhoben uns dann und schwebten, beschützt und geleitet von den heiligen Engeln Gottes, die mich mit dichten Wolken umgaben, durch dunkle, unheimliche Örter voll Geschrei und Getöse. Manchmal versuchten finstere Gestalten auf mich einzudringen und mich durch allerlei Vorwände aufzuhalten; aber einer der himmlischen Führer wies sie gebietend mit einem flammenden Schwerte zurück, dessen Spitze in das Blut Jesu getaucht war. Ich konnte bei diesem Fluge durchs Todestal nicht aufhören, den Herrn um Gnade zu bitten; denn wie schrecklich muss das sein, wenn eine Seele unter die Herrschaft jener finsteren Mächte gerät, und dem Mutwillen und der Willkür böser Geister preisgegeben wird. Da lernte ich erst recht danken für die täglichen Übungen und Widerwärtigkeiten des Erdenlebens, die die Mittel in der Hand des grossen Wiederbringers waren, mich von allen Unreinigkeiten zu befreien; denn nur diejenige Seele bleibt unangetastet in diesen fürchterlichen Räumen, die in der Gnadenzeit frei und los von allem Ungöttlichen geworden ist. 

Mit inniger Liebe musste ich dabei an so manche Menschen meiner früheren, vom Herrn

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mir zugeordneten Umgebung denken, durch deren Unvollkommenheiten ich auf die Finsternis bergenden Tiefen meines Herzens aufmerksam gemacht worden war. Heisse Bitten sandte ich für sie hinauf zum Throne des Allerhöchsten, deren Erhörung mir schon mehrmals zugesichert wurde.  

Bald erreichten wir das dir wohlbekannte Tor, wo ich festlich empfangen wurde. Eine grössere Anzahl herrlich geschmückter  Jungfrauen sang mit Harfenbegleitung ein Loblied, während Scharen kleiner Kinder aus dem Paradiese mir Blumen streuten. Das war zu viel für mich; ich sank nieder auf mein Angesicht, betete den Herrn an, und bat ihn um Kraft, die Schönheiten des Himmels ertragen zu können. Man gab mir Wasser des Lebens zu trinken, das mich erquickte, und neugestärkt erhob ich mich, indem sich der ganze Zug unter vieltausendstimmigen Halleluja in Bewegung setzte. Wir nahten uns einem erhabenen Tempel, wo ich unter Gesang und Gebet eingesegnet wurde und aus der Hand des Herrn den Ehrenkranz empfing. Dann eilten wir zu meinem Besitztum, das nicht allzu weit von diesem Hügel entfernt ist, das du jedoch erst dann schauen kannst, wenn du Treue gehalten hast bis zum letzten Atemzuge und tüchtig gemacht bist, bleibend in dieser Herrlichkeit zu wohnen. 

Ja, was kein Auge gesehen hat, ist mir bereitet worden, und meine Seligkeit wird erhöht werden, wenn ich dir einst zeigen darf, wie die unendliche Liebe des Menschenfreundes alle Wünsche meines Herzens erfüllt hat. 

Zu meiner Wohnung gehört ein grosser Garten mit einem hübschen Wäldchen, in dem sich viele Vögelein aufhalten. Wenn ich singe oder ihnen rufe, so kommen sie furchtlos herbei, setzen sich vertraulich auf meine Schulter und erfreuen mich gerne mit ihren lieblichen Liedern. 

Auch die Blumen bereiten mir viele Freude; kein sterblicher Mund könnte ihre Mannigfaltigkeit und Schönheit beschreiben. Wenn man sie pflückt, verwelken sie nicht, denn sie sind unvergänglich; wieder ins Erdreich verpflanzt, wachsen sie weiter. Auf 

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meinen Spaziergängen vernehme ich gerne ihr zartes Lispeln. Man hört sie sagen: „Herr, Gott, Du Schöpfer aller Dinge, neige Dein Angesicht auch zu uns, denn wir sind auch Deine Geschöpfe; wir erfreuen durch Deine Gnade die Herzen derer, welche Du teuer erkauft hast!“ Auch die Bitten der Erdenpilger erfährt man hie und da auf diese Weise. Es werden mir auch nach meinen Gebeten für mich und meine zurückgelassenen Lieben auf den Blättern der Blumen, namentlich auf den Rosen, Antworten zu teil, die in goldenen Lettern hervortreten. O wie erlabe ich mich immer an den heiligen Worten, die mir nach dem Einzug in mein ewiges Erbe zum ersten male entgegenstrahlten: „Wenn du völlig reinen Herzens geworden bist, sollst du Mein Antlitz schauen!“ Und wie kräftig tröstet mich jene Verheissung, die mir auf mein dringendes Flehen für die Meinigen einst gegeben wurde: „Sei getrost, Ich will euch vereinigen!“ 

 Wenn ich durch ihre Beete wandle, so neigen sie sich vor mir, gleichsam als wollten sie mich grüssen; ja schon öfters war es, als flüsterten sie mir zu: „Liebe, wir waren auch im Erdental!“ Wüsste man diese Geheimnisse im sterblichen Leibe, so würde man sich hüten, solche geistbegabten Geschöpfe Gottes zwecklos zu brechen. Man darf ja Blumen pflücken aus Liebe für andere und sich selbst zur Freude: aber sie aus Mutwillen verderben, dass missfällt dem Herrn sehr.       

Köstliche Früchte...

Beim Anblick der köstlichen Früchte, die in meinem Garten reifen, habe ich schon oft eurer gedacht. Wie gerne möchte ich jetzt, wo in unserer irdischen Heimat die Natur ihren Winterschlaf hält, euch ein Körbchen dunkelroter Erdbeeren bringen oder einige von jenen grossen, durchsichtigen Trauben, die den Eingang meines Hauses zieren!

Oft sitze ich an meinem Lieblingsfenster und schaue mit Sehnsucht ostwärts nach der

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Stadt Gottes, wo der König aller Könige wohnt. Dort empfinde ich mein Glück und meine Seligkeit am Stärksten. Kein kleid, kein Schmerz, keine Sorge drückt mich mehr; kein trüber Gedanke darf mir nahen. 

Als ich vor einiger Zeit wieder an jenem Plätzchen verweilte und mich in Gedanken mit meinen Lieben im Erdentale beschäftigte, sah ich euch wie durch ein Fernglas im Zimmer sitzen. Die liebe Mutter strickte, die Schwestern machten Häkelarbeiten, du hattest dein gewohntes Eckchen eingenommen und der gute Vater schien euch etwas aus einem Buche vorzulesen. Eure Engel standen mit freudigen Mienen beieinander. Daran erkannte ich, dass das Gelesene nicht ohne Segen für eure Seelen war. Aufs neue legte ich meine Bitten für euch dem Herrn hin; und ich habe die Gewissheit, dass er sie erhören wird, wie mir bereits auf jener Blume verheissen wurde. 

Obwohl es mich nach meiner Gemütsart gerne in die Einsamkeit zieht, so bin ich doch nicht immer allein; denn meine Freundinnen besuchen mich öfters und freuen sich mit mir der Herrlichkeit, die der treue Heiland einer Unwürdigen bereitet hat. Gar merkwürdig ist es, dass meine himmlischen Geschwister von den Wünschen meines Herzens geheime Kenntnis haben. Wenn ich mich nach ihnen sehne, so sind sie da, habe ich das Bedürfnis, in der Stille zu sein, so entfernen sie sich.

Die meiste Zeit verwende ich zum Gebet und zur Zubereitung für meinen künftigen Beruf; ich darf nämlich später mit meinen Gaben dem Herrn als Lehrerin im Kinderparadiese dienen; doch habe ich auch schon verschiedene Besuche gemacht. Insbesondere fühle ich mich zu zwei lieben Seelen hingezogen, die ganz in meiner Nähe ein Landgut besitzen, das den Namen ‚Bethania’ hat. Sie teilten, als sie noch auf der Erde waren, Freude und Leid schwesterlich miteinander, und die unendliche Liebe Gottes hat sie auch jetzt im Lichtsreiche wieder vereinigt. Wenige Schritte von ihrem Schlosse steht eine Jasminlaube, in welcher wir manche Stunde mit Gesang und segensreichen Gesprächen zubringen.

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Schon dreimal durften wir die unaussprechliche Freude erfahren, dass Jesus, die Quelle aller Wonne und Seligkeit, unversehens zu uns hereintrat, wie ehemals bei Maria und Marta, und einige Augenblicke bei uns zubrachte. Obwohl er seine Herrlichkeit vor uns verbergen musste, weil wir dieselbe noch nicht ertragen könnten, so wagten wir es dennoch vor Ehrfurcht kaum,  ihn anzublicken. Er richtete an jedes einzelne Worte der innigsten Liebe, die unsere Herzen tief bewegten, und bei denen wir frohe Ahnungen vom Glück derer empfanden, die zu seiner beständigen Umgebung gehören, zu welcher auch wir berufen sind und noch hinanwachsen sollen. 

Könnten doch meine Freundinnen im Tränental den Herrn, das Urbild aller Schönheit, in seiner verklärten Leiblichkeit erblicken, sie müssten in heiliger Liebe für ihn erglühen und würden sich nimmermehr entschliessen, ihre Befriedigung bei den Geschöpfen zu suchen.

Wie glücklich wären so viele unzufriedene Menschen, wenn sie dem Heiland ihre Herzen schenken und seinen Händen ihr Leben und ihre Zukunft anvertrauen wollten. Er verschmäht ja keines, das zu ihm kommt, wenn es auch noch so arm und gering ist. Sein Auge schaut nicht auf Schönheit und Reichtum, nicht auf äussere Vorzüge. O nein! Mit inniger Liebe blickt er nach jenen, die gebeugt von der Erkenntnis ihrer Sünde und ihres mannigfachen Elends sich nach ihm sehnen, seine Hilfe begehren und ihn über alles lieben möchten. Ihnen naht und offenbart er sich gerne in der Stille und Verborgenheit; und wenn sie dort seine heilige Allgegenwart gewahr werden, sein göttliches Nahesein geniessen dürfen, so ist ihre Seligkeit unbeschreiblich gross! 

Die Leiden des Lebens erträgt mit Freuden, wer ihn hat, und verbirgt er sich auch zuweilen, um die Treue und den Glauben der Seinigen zu erproben, so scheint die Sonne seiner Liebe und Gnade später umso heller und kräftiger, je dunkler die Wolken ihrer vermeintlichen Verlassenheit waren.      

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Licht umgibt die wahren Kinder Gottes schon in der sterblichen Hülle, und an ihrer Engelsbegleitung erkennen selbst die Mächte der Hölle ihren himmlischen Adel. 

Manche Seele, die auf der Erde vielleicht nur ein Dachkämmerlein hatte und dort ganz für ihren Herrn lebte,  trifft hier im Lande des Friedens ein wohlzugerichtetes Heim an, das eines Königs würdig wäre! Da findet sie dann ihre geheimsten Wünsche in einer Weise berücksichtigt, wie sie nur die ewige Liebe ergründen und erfüllen kann, und wäre sie nicht unsterblich, sie könnte die ihr bereitete Herrlichkeit nicht ertragen. Ja, königlich belohnt der Heiland diejenigen, die in seinen Fussstapfen wandelten und vom Morgen bis zum Abend sich bemühten, ihm zu dienen, für ihn zu arbeiten und ihm allein zu gefallen. 

Lass dich nicht zum Richten anderer veranlassen... 

Verlasse auch du um Jesu willen alles, was dich noch hindert, sein völliges Eigentum zu werden! Wandle allezeit in seiner heiligen Gegenwart. Bringe dem Herrn schon beim Erwachen deine ersten Gedanken zum Morgenopfer dar. Bitte täglich um Selbsterkenntnis und lasse dir durch seinen Geist die verborgensten Falten deines Herzens aufdecken! Wende deine Augen ab von der Welt und habe acht auf alle deine Gedanken; gestatte ihnen das nutzlose Umherstreifen nicht, sondern führe sie immer wieder zu deinem Gott zurück, in dem du allein wahre Ruhe findest! Selbst unter der Arbeit kannst du seiner gedenken, wenn du alles, was dir vorkommt, aus Liebe zu ihm, nach bestem Wissen und Können, verrichtest, gleichsam als hätte er dir’s aufgetragen. Der Aufblick zu ihm heiligt deinen Beruf, und alles wird dir einst auch das geringste Werk nicht unbelohnt bleiben.

Vermeide jedes unnütze und unüberlegte Wort, jede eines Christen unwürdige Ausdrucksweise; alles ist ein Same, der aufgeht und hier in der Ewigkeit zur Freude oder tiefen Beugung wiedergefunden wird. Werde dem Herrn nicht aus Menschengefälligkeit untreu, indem du an der leichtfertigen Unterhaltung deiner weltlichen Umgebung

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teilnimmst, wo man so bald den Frieden des Herzens verliert. Lass dich aber auch nicht zum Richten anderer veranlassen, namentlich bei Gleichgesinnten, wo das Verurteilen des Nächsten so gerne aus Mangel an Demut und Selbsterkenntnis vorkommt. Weise derartige Gespräche mit Entschiedenheit zurück und hüte dich vor jenen lieblosen Andeutungen, die besonders bei Anfängern und schwachen Seelen oft grossen Schaden anrichten können. 

Wer den Herrn von ganzem Herzen liebt und sucht, bemüht sich, in allen Dingen seinen heiligen Willen zu tun. Er lässt sich auch von treuen Kindern finden nach seiner Verheissung, und selig ist die Seele, welcher er die Augen des Geistes geöffnet hat, dass sie ihn erkennen kann! Jedes Blümlein am Wege erinnert sie dann an ihn; Speise und Trank, ja alles, was sie zu ihrer Notdurft bedarf, nimmt sie in stiller Anbetung aus seiner Hand, und freut sich mitten im verordneten Kampf und Streit ihres Gottes und Heilandes, dem sie auf ewig angehört.“ – 

Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte Jonathan den Worten seiner Schwester seiner Schwester, die einen tiefen Eindruck in seinem Gemüte hinterliessen. Er fühlte jedoch am Schlusse ihrer Rede, dass der Augenblick nahe sei, wo er ins Tal der Leiden und der Schmerzen zurückkehren müsse, und fürchtete sich schon zum voraus vor künftigen Zweifelsgedanken, die ihm den Segen seines jetzigen Schauens rauben können. ‚Ach Lydia’, rief er aus, ‚darfst du mir denn beim Erwachen kein Zeichen geben, das meine Vernunft mir nicht umstossen kann?’ „Ich will den Herrn fragen,“ erwiderte seine gottergebene Schwester und neigte sich demütig mit gefalteten Händen. Als sie sich erhob, lag ein freudiges Lächeln auf ihren Lippen, und der dankbare Ausdruck ihres Blickes liess die Erhörung ihres Gebets vermuten. Bewegten Herzens umarmte sie ihren Bruder, der die ewigen Fluren nochmals überschaute, und eilte mit ihm zur Pforte zurück, wo sie ihn, unter Grüssen und Aufträgen an ihre Eltern, Geschwister und Freundinnen, beim Hinausgehen wieder schützend verhüllte.

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Bald lag die himmlische Heimat wie ein ferner Lichtpunkt hinter ihnen. Je tiefer sie hinabschwebten, desto matter wurde der Glanz; die Dunkelheit mehrte sich und war zuletzt nur durch das Strahlengewand Lydias erträglich. Mit der Schnelle des Sturmwindes kamen sie der Erde näher, deren Umrisse kurze Zeit zu erkennen waren, aber bald wieder verschwanden. Endlich konnte man Länder und Meere unterscheiden und sah zuletzt eine grössere Stadt mit spärlich erleuchteten Strassen. Im Nu hatten sie Jonathans Zimmer erreicht, der sich von magnetischer kraft angezogen, mit seinem Körper vereinigte und sodann erwachte. Prüfend sah er umher, halb zweifelnd; da entdeckte er am geöffneten Fenster das verklärte Gesicht seiner seligen Schwester, die ihm in ihrer freundlichen Weise den Abschiedsgruss zuwinkte und darauf verschwand. 

Nun wusste er gewiss, dass seine zurückgelegte Reise kein träumerisches Erzeugnis seiner Phantasie war; er sprang auf, schaute suchend in die Nacht hinaus, doch Lydia hatte sich bereits seinen Blicken entzogen. Mit wehmütigem Herzen sah Jonathan zu den Sternen empor, dann sank er auf die Knie, dankte für die ihm widerfahrene seltene Gnade und betete lange. Als er sich erhob, begann es zu tagen; er nahm die Feder zur Hand, schrieb sein wunderbares Erlebnis nieder, und betrat frischen Muts den schmalen Pilgerpfad.

 

O Seele, die du lebst verborgen

Vor dieser Welt für deinen Herrn,

harr aus, ein froher Ostermorgen

ist auch für dich nicht allzufern.

Bald rufst du aus nach kurzer Nacht:

Wie hat’s der Herr so wohl gemacht!

Kaspar Heunisch 1620 – 1690

(Neues Württembg. Gesangbuch)

 

 

Joseph Hahn:  Die Heimat der Seele       –                    Teil  5

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der Geist Jesu wehte in diesem Raum und kam einem wie Heimatluft ...  

Wenn an den Sonntagnachmittagen jung und alt ins Freie hinauszog, um nach den Mühen der vergangenen Woche Vergnügen und Erholung zu suchen,  versammelten sich in dem Stübchen einer gottesfürchtigen Witwe mehrere Pilger  und Pilgerinnen, um daselbst von ihrem geliebten Könige und seinem himmlischen Reiche zu reden. Wie heimelig war’s ihnen da zu Mut; denn der Geist Jesu wehte in diesem Raum und kam einem wie Heimatluft schon auf der Schwelle entgegen. Auch nichts Störendes musste das Auge dort erblicken; alles war einfach aber voll Geschmack und Ordnung, und das Ganze drückte die edle Gesinnung der Bewohnerin aus. Über dem Sofa, vor dem ein grosser runder Tisch stand, hing das trauliche Bild „Jesus bei Maria und Marta in Bethanien“; die eine zu den Füssen des Meisters seiner Rede lauschend, die andere Erfrischungen herbeitragend. Was diese schöne Darstellung allen Besuchern ans Herz legte, predigte durch Wandel und Wort die  

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Witwe selbst, deren aufrichtiges Bestreben allezeit war, das eine, was Not ist, zu suchen. Ja sie suchte den Freund ihrer Seele, den sie schon in früher Jugend kennen gelernt hatte, und liebte ihn aus allen Kräften. Ihr Mund war voll Rühmens seiner Gnade und Barmherzigkeit, und für alle Lagen und Nöte des Lebens konnte sie aus ihrer vieljährigen Erfahrung durch Mitteilung wunderbarer Gebetserhörungen und merkwürdiger Erlebnisse trösten und aufmuntern. Sie hatte zugleich die Gabe, sich jedem Alter und jeder Gemütsart anzupassen, nahm alle ohne Ausnahme in herzlicher Liebe auf, trug sie auf betendem Herzen und erquickte ihre Gäste, soweit es ihre bescheidenen Verhältnisse erlaubten, auch mit leiblicher Speise. Während draussen in der Welt viele ihre edle Gnadenzeit mit allerlei unnützen  Dingen vergeudeten, stiegen in dem Stübchen der lieben „Mutter“, wie sie von allen genannt wurde, Gebete und heilige Gesänge zum Herrn empor und durften die Schutzengel gar mancherlei Gutes in die Lebensrollen der Versammelten einschreiben. 

Jahre zogen dahin; mit grosser Treue vereinigten sich stets die Pilgrime zur lieblichen Sabbatfeier. Man freute sich in geheiligter Weise miteinander, nahm aber auch an den Leiden und Prüfungen der einzelnen herzlichen Anteil, und half einander gegenseitig, wie es die Mittel eines jeden ermöglichten. Der Glaube der teuren Witwe war so gross, dass sie auch das Letzte mit Freuden hingeben konnte, wenn es die Not erforderte; und der Herr liess sie nicht zuschanden werden, sondern half ihr immer wieder hindurch. Angesichts ihres segensreichen Wandels, aus dem die liebe Jesu hervorleuchtete, bekam man vom Christentum eine ganz andere Meinung, als sie in gegenwärtiger Zeit überall verbreitet ist; und wer kein ausgesprochener Feind der Kinder des Lichts war, fühlte sich zu ihr hingezogen. 

Je mehr sich der Tag ihres Lebens neigte, desto stiller und eingekehrter wurde die sonst so mitteilsame Mutter. Ihre Gedanken weilten mehr denn je in der oberen Heimat bei ihrem  

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Herrn und Meister und den vorausgegangenen Lieben; denn manch teure Seele hoffte sie droben im Lande der Verheissung wiederzufinden.   

Als nun die Zeit ihres Abschieds aus dieser Welt herbeikam, fand es die ewige Weisheit für gut, sie zuvor durch einschmerzhaftes leiden für die zukünftige Herrlichkeit zuzubereiten. Ehe man sich noch mit dem Gedanken an einen baldigen Hingang vertraut gemacht hatte, rief die Stimme dessen, der über leben und Tod zu gebieten hat: „Es ist genug!“ Ihre verklärte Seele entschlüpfte leise der gebrechlichen Hütte und schwang sich in Begleitung von vielen Engeln und seligen Verwandten zum Lichtsreich empor. Tief betrübt über den grossen Verlust und doch voll Freude über das unaussprechliche Glück der heimgegangenen Mutter standen ihre Kinder mit einigen herbeigeeilten Freunden bei der verlassenen Hülle und schauten im Geiste dem  Siegeszug der Vielgeprüften nach. 

Unberührt von den Schrecken des anderen Todes erreichte die frohe Schar die Pforte der ewigen Heimat, wo sie mit himmlische Musik empfangen wurde. Unter Lob- und Dankgesängen schwebte hierauf der ganze Zug weiter und begleitete die erlöste Seele zunächst zum Besitztum ihrer seligen Eltern, die sie schon in jungen Jahren verloren hatte. Diese besassen in einer anmutigen Gegend, die zu den Vorhallen des Himmels gehörte, ein grösseres Anwesen, das ganz nach ihrem Sinn und Wunsch eingerichtet war. Dort verweilte die nun in ewiger Jugend prangende Tochter eine zeitlang und ruhte von den Sorgen und Mühen ihrer beschwerlichen Wallfahrt aus. Frohe Feste wurden zum Preise Gottes und zur Freude der heimgekehrten Pilger gefeiert, wobei sie in herzlicher Liebe gar oft der Ihrigen im Tränental gedachte.

Doch sie sollte noch Grösseres erfahren. Sie hatte sich ja um ihres Heilandes willen so vieles gefallen lassen, war treulich in den Wegen der Verleugnung gegangen und hatte sich

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voll Glauben und Geduld im Tiegel der Leiden bewährt. 

Unerwartet erschien wieder eine Schar hochseliger Geister aus der Stadt Gottes und aus den Sphären der Verklärung, unter ihnen viele, die sie schon durch das Tal des Todes geleitet hatten, und führten sie unter Gesang und Jubel von Stufe zu Stufe dem Heiligtum zu. 

Schon beim Verlassen der letzten Abteilung des Vorhimmels begann das Gewand des Heils zu glänzen, mit dem sie sich beim Erwachen in der Ewigkeit bekleidet fand, und neue Wonne durchbebte ihr ganzes Wesen.

Als der Festzug durch das strahlende Tor eintrat und von den dortigen Bewohnern mit Siegesliedern bewillkommt wurde, ging in der Ferne eine Sonne auf, in der die treue Jüngerin ihren Herrn und meister erblickte. Sie sank auf ihr Angesicht nieder, weil sie seine Klarheit noch nicht ertragen konnte, und betete ihn an. Der Erhabene sprach: „Führet sie ein, sie soll jetzt das empfangen, was Ich schon längst für sie bereitet habe!“ Darauf verschwand der Herr und die verklärten Freunde geleiteten die hochbeglückte Schwester in ihr himmlisches Besitztum. 

Der Weg dahin führte durch friedliche Täler mit ewigem Grün, aus dem die verschiedenartigsten Blumen hervorsprossten. Prachtvolle Bäume standen zu beiden Seiten, und die luft war voll der köstlichsten Düfte. Da und dort waren reizende Villen zu erblicken, die in keiner Weise mit den kunstvollsten Bauten der Erde verglichen werden konnten. Endlich erreichten sie die verheissene Wohnstätte. Es war ein Schloss mit sieben Stockwerken wie aus Mattsilbe erbaut. Die Architektonik, sowie die dazu gehörige Umgebung entsprach vollkommen dem Geschmack und der Gemütsart der Besitzerin.

Bei ihrem Eintritt wurde sie von ihren frühverstorbenen Kindern empfangen, die nun zu

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herrlichen Jünglingen und Jungfrauen herangewachsen waren. Auch fromme Vorfahren aus der Familie hatten sich zur Begrüssung eingefunden. Ihr einstiger Freund und Lehrer, dem sie so vieles verdankte, und den seine innige Liebe bis zum Throne Gottes führte, nahm die vor Seligkeit sprachlose Seele bei der Hand und zeigte ihr im einzelnen das Erbteil, das der Herr ihr zugerichtet hatte. Beim Anblick der zahllosen Herrlichkeiten konnte sie nicht oft genug ausrufen: „O wie ist der Herr so treu, wie liebt er die Seinigen!“ Wenn ich es nur auch den Meinen auf der Erde sagen könnte!“ 

Jede Verleugnung und Entbehrung, die sie von früher Jugend auf sich genommen hatte, fand sie belohnt und ersetzt, und immer wieder wurden ihr neue Beweise seiner unergründlichen Liebe. Sie fühlte sich als die ärmste und unwürdigste unter allen selig Verklärten und vermochte ihr unaussprechliches Glück nicht zu fassen. Eine volle Woche nach menschlicher Zeitrechnung währte das Fest ihres Einzugs, an das sich Besuche bei den schon länger eingegangenen Freunden und gemütsverwandten Himmelsbewohnern anschlossen.

Bald nach ihrem Heimgang feierte man im Tränentale das Osterfest. Auch die Seligen gedachten in dankbarer Liebe an das grosse Werk der Erlösung und freuten sich auf den König aller Könige, der in diesen heiligen Tagen im Triumph durch alle Himmel zog. Überall wurden Ehrenpforten errichtet und Blumen gestreut. Tausende und Abertausende verklärter Geister, utner denen sich auch die teure Mutter befand, die wir um ihrer Gebetstreue willen nun Monika nennen wollen, stellten sich am Wege auf und warteten. Endlich vernahm man von ferne die Klänge der himmlischen Musik und Hosianna- und Hallelujarufe. Der Zug kam näher. Johannes, der Täufer, ging voraus, er trug in seiner Rechten eine Kreuzesfahne. Auf seine Verkündigung: „Der Herr kommt, der Erhabene naht!“ warfen sich alle nieder. Nach diesem Herold Gottes kamen Harfenspieler und Sängerchor, dann der Herr selbst, umgeben von den Seinigen.

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Er sass auf einem weissen Pferde, hatte einen Purpurmantel umgeworfen und trug eine weitstrahlende Krone auf dem Haupte. Die Wundmale an Händen und Füssen und an der Seite glänzten wie Sterne. Er schaute bald rechts, bald links nach einer jeglichen Seele, und oblgeich er seine Herrlichkeit noch lange nicht in ihrer ganzen Grösse entfaltete, senkten sich die Angesichter doch sofort wieder, nachdem sie seinen Liebesblick erwidert hatten. An die Apostel, Jünger und Jüngerinnen reihten sich die Erzväter, Helden und Propheten des Alten Bundes; dann folgten Scharen von Märtyrern aus der ersten Christenheit und Seelen aus allen Landen und Zeiten, die ihrem Heiland in der Stille und Verborgenheit gelebt und gedient hatten. Da glänzten Kronen und mit Ehrenzeichen aller Art geschmückte Gewänder; viele trugen auch Palmen als Symbol des Sieges in den Händen. Den Schluss der unübersehbaren Reihen bildeten viele Legionen Engel, die zu wunderbar klingenden Instrumenten dem Höchsten Lob, Preis und Ehre sangen. 

Als Monika wieder auf ihr Besitztum zurückgekehrt war, erfreute sie sich dort mit ihren Söhnen und Töchtern der Herrlichkeit, die ihr der Herr zum ewigen Erbe geschenkt hatte. Wie so vieles musste sie ihnen von den Geschwistern und Freunden im Erdentale erzählen, die jetzt noch im dunklen Glauben wandelten. Von Zeit zu Zeit brachten Engel auch nachrichten von ihnen, und Lobgesänge erschallten, wenn die besorgte Mutter erfahren durfte, dass der grosse Schmelzer Leiden und Prüfungen über ihre leiblichen und geistigen Kinder verfügte, um sie für sein ewiges Friedensreich tüchtig zu machen.

Gar oftmals versammelten sich auch im Schlosse Monikas verklärte Freunde und Nachbarn, die durch Ähnlichkeit des Charakters oder der Lebensführung sich zu ihr hingezogen fühlten. Nichts konnte solche Vereinigungen mehr töten; frei von den Beschwerden und Unvollkommenheiten der Erde genossen sie in heiliger Liebe zusammenfliessend ein nie geahntes Himmelsglück.

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Ganz besondere Seligkeit bereitete es der fürstlich ausgestatteten Gastgeberin, dass sie jetzt von dem Reichtum, der ihr durch die Gnade Gottes zugefallen war, so recht nach Herzenslust mitteilen konnte. Wie strahlte sie vor Wonne, wenn sie dieser oder jener Seele eine Überraschung bereiten durfte. Das liess ihr der treue Heiland, der nichts vergisst, deshalb ganz besonders gelingen, weil sie den ihr in seltenem masse eigenen Drang zum Freudebereiten im Tränental gar oft aus Mangel an den nötigen Mitteln verleugnen musste. Ihr heiteres Gemüt, das auf Gedrückte und Bekümmerte einst so aufmunternd einwirkte, trat hier in geheiligter Weise wieder hervor, und sie erfreute mit diesem ihr anerschaffenen Charakterzuge alle himmlischen Besuche. 

Wie segensreich war ein solches zusammenkommen, wo jede Seele die ihr anvertrauten Fähigkeiten zur Ehre Gottes entfaltete und mitteilte. Besonders die Gabe des Gesangs und der Musik entwickelte sich in einer Weise, davon der noch im Staube wallende Pilger sich keine Vorstellung machen kann. Sie unterhielten sich vielfach auch von den Führungen des Herrn und von seiner unendlichen Liebe, und erzählten einander gegenseitig, welche Wunder der Barmherzigkeit Gott an ihnen getan hatte. Man gedachte auch derer, die noch auf dem Kampfplatze standen und redete davon, wie schwer es sei, in der gegenwärtigen Mitternachtsstunde durchzukommen.

Einstmals erzählte Monika ihren Gästen unter anderem auch von dem herrlichen Werke, das der grosse Wiederbringer kurze Zeit vor ihrem Heimgange an der Tochter einer Freundin begonnen hatte, und das jetzt seiner Vollendung nicht mehr ferne war. Während dieser ergreifenden Schilderung, die in allen den Wunsch wachrief, diese seltene Seele besuchen zu dürfen, überbrachte ein Engel die frohe Botschaft, dass die Stunde ihrer Erlösung gekommen sei und fügte hinzu, es sei des Herrn Wille, dass sämtliche Freunde sich an der

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Abholung beteiligen möchten. Hocherfreut eilte die himmlische Gesellschaft unter der Führung Monikas sofort auf die Erde. 

Als sie in der Morgenfrühe das Haus erreichten, lag Agnes bereits in den letzten Zügen. Mit der äussersten Schwäche des Leibes war ein tiefes Dunkel der Seele verbunden; kein Sternlein des Trostes durfte das Auge des Glaubens erblicken. In gesunden Tagen hatte sie oft gedacht: „Der Herr kann mir kein Leiden anvertrauen, denn ich bin zu gering in seinen Augen.“ Nun aber vermochte sie die auferlegten Schmerzen fast nimmer zu ertragen; doch opferte sie immer wieder ihren Willen und rang unaufhörlich um Geduld und Ergebung. So wollte es die ewige Weisheit und Liebe, im Ofen des Elends sollte die edle Dulderin bewährt werden; denn der Meister fand die Jüngerin für würdig, den Kelch des Leidens bis auf die Hefe zu leeren. Sie konnte nur seufzen: „Herr, erbarme dich meiner, hilf mir, dass ich nicht untergehe!“ Ihr Sehnen ging stets zu ihrem Heiland, nun musste sie noch den letzten Weg wandeln, den dunklen und steilen, der aber sicher zu ihm führt. 

Über der Kämpferin schwebte ein Engel vom siebenten Rang. Schützend breitete er seine starken, wie Atlas glänzenden Fittiche über sie aus und betete mit aufgehobenen Händen. Dicht an ihrer rechten Seite stand eine Jungfrau aus dem Paradiese; geistes- und blutsverwandt mit der Sterbenden, hatte sie die Sehnsucht und Liebe hergezogen. Wie gerne hätte sie der schmachtenden Seele einen Schimmer himmlischen Glanzes zur Stärkung gezeigt; doch es war nicht der Wille des Höchsten, und sie opferte ihr heisses Verlangen im Gedanken an seine weisen Absichten und wunderbaren Führungen. 

Die Kranke war in einen leichten Schlummer verfallen und diesen Augenblick benützte die selige Freundin, ihr die Worte ins Ohr zu hauchen:

„Endlich kommt er leise, nimmt dich bei der Hand,führt dich von der Reise, heim in Vaterland.“

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Getröstet erwachte Agnes, wiederholte den lieblichen Vers zu ihrer Aufmunterung und war verwundert, dass sie sich desselben nicht schon bälder erinnert hatte. 

Für das geistige Auge war das Zimmer von unbeschreiblichem Glanze erfüllt. Heilige aus der Stadt Gottes, Verklärte und Selige aus allen Stufen, sowie Jungfrauen aus dem Paradiese und viele Engel harrten auf die Stimme vom Throne. Endlich kam der Zeitpunkt ihrer Erlösung; der Herr sprach sein Machtwort und der Ausgang war geschehen. Wie aus einem schweren Träume erwachte die entbundene Seele zu neuem Leben. Staunend schaute sie im Kreise umher und rief beim Anblick der sie umgebenden Herrlichkeit aus; „Halleluja, ich habe überwunden! Ich bin von Licht durchdrungen und Licht umgibt mich überall!“ Der Jungfrauenchor stimmte dem Herrn ein Loblied an, und die ganze Schar eilte mit der überglücklichen Seele unter frohen Gesängen ohne Aufenthalt an den Ort ihrer Bestimmung. 

Der König des Himmels hatte ihr im ersten Grade der Verklärung unweit Monikas Besitzung eine Wohnung zubereitet, wo sie bis auf weiteres verweilen sollte. Er selbst  begrüsste sie dort, setzte ihr ein Diadem von Lilien aus Brillanten aufs Haupt und sagte: „Du hast Mir gedient und hast Mich geliebt, und weil du so wert bist vor Meinen Augen geachtet, sollst du auch herrlich sein, denn Ich habe dich lieb“ (Jes. 43, 4)! Hierauf gab er ihr einen Fingerreif mit einem Rubin von seltener Grüsse, in den die Worte eingegraben waren: „Ich will Mich mit dir verloben in Ewigkeit“ (Hosea 2, 19)!

Das ihr vom Herrn geschenkte Kleid war von blendendem Weiss und zum Lohn für ihre einstige Einfachheit mit prachtvollen Stickereien versehen. Bei allen diesen Gnadenbezeugungen und Liebesbeweisen, die ihr nun in nie geahnter Weise zu teil wurden, fand sie fast keine Worte; sie konnte nur sagen: „Das habe ich nicht verdient!“

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Die Stätte, wo sie von den Leiden und Schmerzen des Lebens ausruhen sollte, hatte der himmlische Baumeister ganz ihren Neigungen entsprechend eingerichtet. Da war auch nicht der leiseste Wunsch vergessen, und alles stand in vollendeter himmlischer Schönheit da. Wie manche Liebesgabe aus der Hand des treuen Heilandes, die er zur Zeit ihrer Pilgrimschaft bei verschiedenen Veranlassungen hierher bringen liess, durfte sie vorfinden, das entflammte und vermehrte ihre Liebe immer aufs neue. Ganz besonders erfreuten sie die naturgetreuen Darstellungen aus der lebens- und Leidensgeschichte des Herrn, die die Wände ihres Heims schmückten und an denen sie sich gar oft erquickte und erbaute.

Ihr freundliches Schlösschen stand inmitten eines Parkes von allerlei Frucht- und Waldbäumen, Ziersträuchern und wunderbaren Blumen. Da und dort waren an lauschigen Stellen niedliche Bänkchen angebracht; es fehlte auch nicht an Lauben für kleinere und grössere Gesellschaften. Munter plätscherten kunstvolle, von farbenreichen Rabatten umsäumte Wasserwerke, und durch die immergrünen Wiesen schlängelte sich ein silbernes Bächlein. Da Agnes auf Erden so gerne diente, wo und wie sie nur konnte, ehrte sie ihr Herr und Meister durch eine grosse zahl Diener und Dienerinnen, die ihr mit Freuden gehorchten. Siebenmal ging über dem Tal der Tränen die Sonne auf, ehe das Fest ihrer Einführung zu Ende war. Dann zog sie sich eine zeitlang zum Gebet in die Stille zurück.

Der Tag, an dem Gott ihr einst das leben geschenkt hatte, vereinigte wieder viele Himmelsbewohner auf ihrer Besitzung. Auch Monika, ihre geistige Mutter, fand sich mit ihren verklärten Söhnen und Töchtern zur Feier ein. Von allen Seiten wurde sie beschenkt und erfreut. Der König aller Könige übersandte ihr einen Schmuck von unschätzbarem Werte und tiefer geistiger Bedeutung, daraus man ersehen konnte, zu welch hohem Stande er sie zubereiten wollte. Agnes musste bei der Fülle und Wonne und Glück immer wieder 

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ausrufen: „Ach dass ich doch aus Liebe zu Dir, mein Heiland und Erlöser, mehr gelitten, erduldet und verleugnet hätte!“ 

Auch die Lieben in der irdischen Heimat gedachten ihrer zu dieser Zeit und schmückten den Ruheplatz ihrer Gebeine mit frischen Kränzen. Auf einen Wink des Herrn trat in später Abendstunde ein Engel an das Grab, auf dem auch ein Sträusschen ihrer Lieblingsblumen lag, mit denen ihre Freundin Lucie ihr Gedenken an die Entschlafene auszudrücken versuchte. Der himmlische Gesandte beugte sich nieder, nahm das Unsterbliche der halbverwelkten je länger je lieber und trug die zarten Geschöpfe in einem glänzenden Körbchen himmelan. Mit Blitzesschnelle erreichte er das Land des ewigen Lebens und überbrachte Agnes den Liebesgruss vom Erdental. Herrlich hatten sich die Blumen zum Preise Gottes entfaltet und leuchteten in überirdischer Schönheit. Zur Freude aller Anwesenden standen auf den Blättern wie mit flüssigem Golde geschriebene Worte. Es war das Gebet, das jene treue Seele beim Niederlegen des Sträusschen empor gesandt hatte, und lautete also: „Du hast sie, o Jesu, heimgenommen, sie bedarf jetzt meiner schwachen Seufzer nicht mehr; erhöre doch, Du treuer Hirte, auch jene Bitten, die das in Deinen Armen ruhende Schäflein nun für mich, Einsame, Dir ans herz legt!

Agnes richtete ihre Blicke zum Throne; sie rang im Geiste für ihre Freundin, die sie in gar dürftigen Verhältnissen wusste. Sodann erhob sie sich, berührte die Tasten eines reichverzierten, orgelähnlichen Instruments und sang dem Herrn ein Loblied, das mit innigen Bitten für die schwergeprüfte Lucie schloss. Herrlich erklang ihre Stimme, getragen von den zarten Tönen, die den silbernen Flöten entquollen, und zog die Herzen mit Macht hinauf zur Quelle der ewigen Liebe. Wie hatte der Geber aller guten Gaben ihr das für die Erde versagte Talent in einer ihre Wünsche so weit übersteigende Weise ersetzt! Immer

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wieder neue Freuden und Überraschungen wurden ihr zu teil, zu denen auch die noch vor Schluss des Geburtstagsfestes aus dem höchsten Heiligtume stammende Eröffnung zählte, dass ihre teure Freundin in kurzem mit ihr vereinigt werde.

Bei all der Pracht und Herrlichkeit, welche die Himmelsbürgerin nun umgab, überkam sie doch zuweilen, besonders wenn sie sich in die Stille zurückgezogen hatte, ein heisses Sehnen nach dem Schöpfer ihres Glücks, dessen liebe sie ja alles zu verdanken hatte. Dieser innere Zug führte sie öfters auf eine Anhöhe, von der aus sie oft lange unverwandt nach dem ewigen Osten schaute, wo das Licht, das die Himmel erleuchtet, heller und stärker strahlt. Einige Zeit nach ihrem Ehrentage verweilte sie wieder auf jenem Hügel, den sie „Bethel“ nannte. Zu ihren Füssen blühten Tausende der schönsten Blumen, über denen prachtvolle Falter schwebten. Ein leiser Hauch führte den Duft der Reseden herbei, der besonders wohltuend auf ihr Gemüt einwirkte und bei dem sie den seligen Frieden ihres Aufenthalts doppelt empfand. Geheimnisvoll rauschten die Blätter der Bäume, auf deren Zweigen allerlei Vögelein wetteifernd den Herrn priesen. Ihr ganzes Wesen war voll Dank und Anbetung, und sie fühlte mehr denn je die Nähe ihres himmlischen Bräutigams. Ein Lichtstrahl, der plötzlich ihre nächste Umgerbung erhellte, verkündigte ihr seine Offenbarung; sie warf sich zur Erde und verhüllte ihr Haupt. „Friede sei mit dir, Meine Tochter,“ sprach eine Stimme voll Güte und Milde, und eine sanfte Hand berührte ihre Schulter. Sie erhob sich ein wenig, schlug die Augen auf und erblickte in unaussprechlicher Heiligkeit und Majestät Den, welchen ihre Seele liebte. Der Ausdruck seines Angesichts war väterlich und mütterlich, brüderlich und königlich zugleich, von unbeschreiblicher Reinheit und Liebe. Er nahm sie bei der Hand und zog die demutsvolle Seele an sein Herz. Ach wie unwürdig fühlte sie sich dieser hohen Gnade und Herablassung; sie hätte laut jubeln mögen

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vor Wonne und Seligkeit und doch wieder weinen und in den Staub sinken. Sie empfand wohl, dass sie noch lange nicht rein genug sei, beständig in seiner heiligen Nähe zu verweilen und seine Klarheit unverhüllt zu schauen, wusste sich aber dennoch als sein ewiges Eigentum. Ihre Blicke blieben gesenkt auf seine Hände gerichtet. Sie zerfloss vor Wehmut und Beugung bei dem Gedanken: „Das sind die Hände, die Du für mich Dir hast durchbohren lassen.“ Kein Wörtlein kam über ihre Lippen, aber ihr Herz redete zu seinem Herzen die mächtige Sprache der Liebe. Sie fühlte sich bei ihm unendlich geborgen und aufs tiefste und innigste befriedigt, sie hätte von Ewigkeit zu Ewigkeit bei ihm bleiben mögen; denn sie erkannte nun wahrhaftig, dass in ihm alles zu finden ist, was das Herz erfreuen und beglücken kann. Er sah, was sie bewegte; all ihr Wünschen, all ihr Sehnen war ihm wohlbekannt; und als er von ihr schied, gab er ihr die Versicherung, dass auch sie noch hinanreisen werde zu jenen Seelen, welche ihm, dem Lamme, nachfolgen und bei ihm sein dürfen allezeit (Offenb. Joh. 14,4). 

Freudetrunken verliess Agnes ihren Lieblingsort und eilte zu Monika, um ihr die frohe Botschaft des ihr widerfahrenen Heils mitzuteilen.

Auch Monika wurde schon einer solchen Offenbarung des Herrn gewürdigt und hatte diese besondere Sehnsucht nach dem himmlischen Bräutigam mit ihrer geistigen Tochter gemeinsam. Wie oft flehte diese in so vielen Stürmen erprobte Beterin für die Seelen ihrer Kinder und Mitverbundenen auf der Erde, die ihr so sehr am Herzen lagen, dass ihr der Aufschwung in die höheren Grade der Herrlichkeit durch ihre allzu grosse Anhänglichkeit erschwert wurde. Ihre Gewänder prangten von Edelsteinen, und für ihre priesterlichen Fürbitten war sie mit köstlichen Perlen geziert. Doch auch sie erkannte je länger je mehr, dass die Heimat der Seele nach des Wortes tiefster Bedeutung allein im Herzen Jesu zu finden sei und sehnte sich nach Vollendung in Geistleiblichkeit. Inmitten aller himmlischen

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Freuden musste sie oft ausrufen: „O teure Verbindung der Kinder des Lichts, doch über Dich, köstlicher Jesus, geht nichts!“ Es war ihr eifrigstes Bestreben, dieses höchste Ziel zu erreichen, aber sie wusste auch, dass das Wachstum des neuen Menschen im Schauen viel schwerer vonstatten geht, als im Stande des Glaubens. Noch sechs Stufen der Ver-klärung und Zubereitung hatte sie zu ersteigen bis zum bleibenden Anschauen des Herrn.

 

Nicht selten kamen Auferstandene aus der Stadt Gottes und erzählten ihr von der Herrlichkeit des neuen Jerusalem  und des Paradieses, von den Festen, die dort der König mit den Seinigen hält, wo das Wort in Erfüllung geht: „Er wird sich aufschürzen und ihnen dienen“ (Luk. 12, 37). Insonderheit besuchte sie der schon im Tränental mit ihr verbundene Freund und Berater, der sie auch zuweilen auf ihren Reisen in die Vorhöfe des Himmels begleitete, wo sich noch ihre Eltern befanden. Auch die Orte der Reinigung, in denen sich verschiedene Bekannte von ihr aufhalten mussten, und die Erde besuchte er mit ihr. Er unterstützte sie in ihren Gebeten und durfte mit Erlaubnis des Herrn vieles an den ihr nahestehenden Seelen tun.

Zu der Zeit, da Agnes bei ihrer geistigen Mutter verweilte und ihre Gedanken und Empfindungen über das soeben Erlebte mit ihr austauschte, trat der hochverklärte Freund Monikas ein, was stets zur Erhöhung ihrer Seligkeit diente. Wie immer, so hatte er auch diesmal seine Herrlichkeit verhüllt; aber dennoch brachen Strahlen aus ihm hervor, besonders wenn er von seinem Heiland redete, den er schon in früher Jugend so innig und treu liebte wie wenige. Es war ihm bereits bekannt, dass die ewige Liebe sich zu Agnes herabgelassen hatte, und er erzählte den beiden Seelen neue Wunder der Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Und als er ihnen die unvergleichlichen Freuden der himmlischen Residenz vor Augen führte und sie, so viel es ihm gestattet war, in die Geheimnisse der

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Haushaltung Jehovas hineinblicken liess, sie zugleich auch versicherte, dass der Herr sie liebe und nach ihnen verlange, fielen sie überwältigt von den Vorgefühlen jener höchsten Wonnen, die ein geschaffenes Wesen empfinden und ertragen kann, auf ihre Kniee nieder und beteten Den an, der allein würdig ist zu nehmen Lob, Preis, Dank und Anbetung von Ewigkeit zu Ewigkeit!

 

Als sie sich erhoben hatten, teilte ihnen dieser Fürst im Reiche Gottes auch einiges über ihre Lieben auf der Erde mit. Unter anderem schilderte er ihnen die Versuchungen, welche jetzt vor der nahen Wiederkunft Christi an die Kinder des Lichts herantreten, weil der Satan sich alle erdenkliche Mühe gibt, ihnen zum mindesten das Recht zur ersten Auferstehung zu rauben. Und als er von den vielen lauen und trägen Christen redete, rief er mit tiefer Wehmut aus: „Wo ist das Verlangen ihn, den Höchsten, zu umfassen und in seiner Nähe einst weilen zu dürfen? Wie sind sie so kalt und so gleichgültig! Sie begehren nicht von ganzem Herzen ihn zu schauen und in seinem Umgang zu leben; mit ihm vereinigt und verbunden zu werden, darnach sehnen sie sich nicht. Ihre Gedanken sind nur dahin gerichtet, es gut zu haben und befreit zu sein von den Sorgen und Leiden des Lebens; aber seine unendliche Liebe, die ihnen alles ersetzt, kennen sie nicht und doch möchte er sie alle, alle bei sich haben!“

 

Nach diesen Worten wurde sein Aussehen verklärter, der Glanz seiner verborgenen Herrlichkeit stärker und für die Augen der beiden Himmelsbürgerinnen fast nicht mehr erträglich. Er eilte; denn seine Sehnsucht und Liebe zog ihn zu seinem ein und alles empor.

Agnes griff in die Saiten einer goldenen Harfe und sang mit ihrer treuen Monika das Lieblingslied ihrer Wallfahrt:

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„Lasst mich gehen, lasst mich gehen,

dass ich Jesum möge sehn,

Meine Seel ist voll Verlangen,

ihn auf ewig zu umfangen

und vor seinem Thron zu stehen.

 

Süsses Licht, süsses Licht,

Sonne, die durch Wolken bricht,

o wann wird ich dahin kommen,

dass ich dort mit allen Frommen schau dein holdes Angesicht!

 

Ach wie schön, ach wie schön

Ist der Engel Lobgetön!

Hätt ich Flügel, hätt ich Flügel, flög ich über Tal und Hügel

Heute noch nach Zions Höhn.

 

Wie wird’s sein, wie wird’s sein,

wenn ich zieh in Salem ein,

in die Stadt der goldnen Gassen!

Herr, mein Gott, ich kann’s nicht fassen,

was das wird für Wonne sein.

 

Paradies, Paradies,

wie ist deine Frucht so süss!

Unter deinen Lebensbäumen

Wird uns sein, als wenn wir träumen.

Bring uns, Herr, ins Paradies!“

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Nachschrift 

Nach dem Heimgang Monikas gaben die zurückgebliebenen Freunde einander das Versprechen, mit unerschütterlicher Treue zusammenzuhalten und Hand in Hand dem gemeinsamen Ziele nachzujagen. Der König aller Könige sah mit Wohlgefallen auf das kleine Häuflein nieder, liess die einzelnen Seelen je länger je mehr erkennen, dass ihre Liebe zu ihm, dem höchsten und anbetungswürdigsten Gute, noch zu schwach und nicht rein genug sei, und trieb sie durch seinen Geist an, um jene heilige, alles umfassende Jesusliebe zu bitten, ohne welche den heimkehrenden Pilgern die Tore Jerusalems verschlossen bleiben. Er reinigte und heiligte ihre Herzen, führte sie solche Wege, auf denen sie von aller unordentlichen Anhänglichkeit an die Geschöpfe frei werden konnten, erfüllte sie mit inniger Sehnsucht zu ihm, und schenkte ihnen Kraft, ihre Liebe durch treues Nachfolgen in seinen Fussstapfen zu beweisen. Ein Glied des Kreisleins um das andere wurde nach vielen Leiden und Prüfungen in die Ewigkeit abgerufen. Jedes wusste sich von den vorausgeeilten Lieben abgeholt, und alle schieden mit der festen Zuversicht und Hoffnung, einander droben, im Lande des ewigen Friedens, bei ihm, der wahren Heimat der Seele, wieder zu finden.

 

Joseph Hahn:  Ewig geborgen       –                    Teil  6

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ein lichter Traum führte ihn...                  

Jahrzehnte waren vergangen, seitdem der frühverwaiste Franz am Grabe seiner frommen Mutter stand; aber immer noch machte er die gewohnten Erinnerungsgänge zum einstigen Elternhause, in dem er seine glücklichsten Stunden verlebt hatte. Besonders in Zeiten der Sorge und Trübsal wohnten seine Gedanken in den alten Räumen, und er suchte durch Vorstellungen lieber Bilder Trost und Frieden für seine bekümmerte Seele. Da er fast jede Nacht träumte, kam es zuweilen vor, dass er auch im Träume die Stätte seiner Jugend besuchte. Das war immer eine grosse Freude für ihn, die ihn dann am folgenden Tage noch begleitete. 

Nachdem er geraume zeit einer solchen Erquickung nicht mehr teilhaftig geworden war, führt ihn ein lichter Traum in das gegen den Garten gelegene Wohnzimmer seiner Eltern, an das sich seine liebsten Erinnerungen knüpfen. O wie glücklich fühlt er sich in diesem Raume! Alles steht noch auf der gleichen Stelle wie in seinen Kinderjahren. Er findet

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auch den Nähtisch seiner lieben Mutter wieder, an welchem er so oft ihr gegenübergesessen, mit Knöpfen gespielt und auf ihre Erzählungen gelauscht hat. In dem er sich auf seinen Stuhl niedersetzt, fält ein Blick auf einen Brief mit goldenen Lettern. Sei Name ist’s, er sieht’s und fühlt zugleich, dass es ein brief der teuren Mutter ist. Himmlischer Wohlgeruch duftet ihm beim Öffnen des Briefes entgegen, den er mehr mit der Seele als mit den Augen entziffert. Klarer und klarer erkennt und versteht er die Worte, sie gehen ins Herz, graben sich tief ein und bleiben ihm unvergesslich. Er liest:

            Geliebter Sohn!

            Der Friede Gottes sei mit Dir!

Lob und Preis und Dank sei dem Herrn, dass er die heissen Gebete erhört hat, die ich einst sterbend zu ihm emporsandte! Sein Wort ist wahrhaftig und was er zusagt, das hält er gewiss. Mutterstelle hat er an Dir vertreten und Dich durch Nacht und Dunkel auf den Weg des Lebens geführt. Des freue ich mich, preise seinen heiligen Namen ewiglich und bin der gewissen Zuversicht, dass er das in Dir angefangene Werk auch vollenden wird und wir uns einst wiedersehen dürfen in der Herrlichkeit, die seine unaussprechliche liebe mir bereitet hat.

Obgleich ich nach Gottes weisem Ratschluss Dich im Alter von sieben Jahren auf der Erde zurücklassen musste, ist mir Dein innerer und äusserer Lebensgang doch genau bekannt. Deine ernstliche Erkrankung, Dein Verlassensein nach dem Tode des lieben Vaters, Deine schweren Schul- und Lehrjahre, Deine Versuchungen und Dein Verhalten unter denselben, Deine Sorgen um die Zukunft und die wunderbare Durchhilfe und Fürsorge des Herrn, Deine ferneren Kämpfe und jetzigen Aufgaben: von allem bin ich wohlunterrichtet. Oftmals durfte ich ungesehen Dir nahe sein, Dich trösten,  ermahnen und Dir Mut zusprechen. Auch empfange ich von den Engeln Gottes immer wieder Nachricht über Dein geistliches 

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Wachstum, über Deine Glaubensproben, Kämpfe, Niederlagen und Siege. Mein Vertrauen auf den Herrn ist nicht zuschanden geworden. Zu der verheissenen Belohnung zähle ich auch das Licht, das er mir in Deinen Pilgerlauf schenkt, durch das ich selbst in den dunkelsten Führungen seine Liebe erkennen darf, die Dich reinigen und für die ewige Heimat zubereiten will. Diese grosse Gnade stärkt meinen Glauben und macht meine Seele stille zu Gott. Ich freue mich unaussprechlich auf die Stunde, wo wir wiedervereinigt werden und auch an Dir das Wort Erfüllung geht: “Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen herz gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben.“ 1. Kor. 2, 9.

Wie treu der Herr ist, erkennt man erst recht im Lichte der Ewigkeit. Das ruft bei allen seligen Geistern den heissen Wunsch wach: Ach, dass ich im Lande des Glaubens ihm mehr vertraut und ihn doch treuer geliebt hätte!

Die menschliche Sprache ist viel zu arm, die Herrlichkeit des Himmels auch nur einigermassen zu beschreiben. Jene Dich so tröstenden Ahnungen zukünftigen Glückes, die Du zuweilen empfindest, sind im Vergleich mit der Seligkeit, die auch Dir zuteil wird, wenn Du Treue hältst bis ans Ende, wie Dämmerlicht von Licht erfüllt, von Geist, Leben und Freude.

Dein Gang zur Arbeit führte Dich jahrelang an dem Anwesen eines vielfachen Millionärs vorüber. Die Gedanken und Empfindungen, die beim Anblick dieses schönen und gemütvollen Heims auch Dein Herz in so mancherlei Lebenslagen durchzogen, habe ich in Deiner Seele gelesen. Wie unendlich würde Dich die Nachricht beglücken, dass in diesem vielbewunderten und beneideten Besitz Deine Dich innigliebende Mutter wohne, die mit heisser Sehnsucht dich erwartet, und die bereit ist, all ihren Reichtum mit Dir zu teilen. Wie bald würdest Du allen Kummer und Jammer vergessen und in ihre Arme eilen. Die Güte

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des Herrn hat mir ein viel herrlicheres Erbteil geschenkt; ein Besitztum ist Deiner Mutter geworden, wie es kein König auf Erden hat. Dort erwarte ich Dich und harre auf die Stunde, wo ich Dir zeigen darf, wie die ewige Liebe das Vertrauen krönt und jede Treue im Glauben so königlich vergilt. O wie armselig sind die höchsten irdischen Freuden, wie minderwertig ist jedes nur denkbare Glück im Tale der Tränen, gegenüber der unaussprechlichen Seligkeit im lande des ewigen Friedens. Die Liebe und Eintracht, die alle Himmelsbewohner beseelt und verbindet, ist allein schon des geduldigen Ausharrens unter schwierigen Verhältnissen wert. Wie wird Dir sein, wenn du alles, was Du aus Liebe zum Heiland gelitten, verleugnet gearbeitet und dahingegeben hast, in unserer oberen Heimat wiederfindest! Wie wirst Du staunen, wenn Du erkennst, dass er auch keinen Gedanken vergessen hat, den Du im Gehorsam des Glaubens ihm aufgeopfert hast. Wäre man nicht unsterblich, man verginge vor Freude, so beugt und zerschmilzt uns die Macht seiner Liebe.

Vergiss nicht, dass diese Liebe Dich beständig beobachtet und begleitet, auch wenn Du nicht die geringste Empfindung davon hast. Sie ist dir näher, als Du Dir selber bist. Sie weiss alles und sieht alles, nicht nur das Gute, das Du mit ihrer Hilfe vollbringen darfst, sondern auch die verborgensten Neigungen und Untreuen des Herzens.

O wie edel ist die Zeit der Gnade, und ach, wie viele Stunden werden mit nichtigen Dingen vergeudet. Jede Stunde ist eine köstliche Perle und kann zum Schmuck und zur Freude in der Ewigkeit für Dich werden, wenn Du sie richtig anwendest. Was verloren ist, bleibt ewig verloren! Und wenn auch noch manche bussfertige Seelen in der elften Stunde angenommen werden und den Gnadengroschen der Seligkeit empfangen, sie werden in alle Ewigkeiten nicht so herrlich glänzen und geschmückt sein wie die, welche ihre Kräfte

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im Dienste des Herrn verzehrt haben und Überwinder geworden sind. O wie müssen sich unentschiedene und träge Christen vor solchen Seelen schämen, an deren Schmuck schon erkennbar ist, wie oft sie geschwiegen, auf ihr Recht verzichtet, ihre Natur bekämpft und besiegt, was sie aus Liebe zum Heiland verleugnet, erduldet und im Verborgenen getragen haben.

Ach, geliebter Sohn, halte Dich doch immer fester an das Wort Gottes und lass es Deines Fusses Leuchte und ein Licht auf allen Deinen Wegen sein. Lies es mit betendem herzen, und der Herr wird Dir die Augen öffnen und die Wunder an seinem Gesetz zeigen. Nahe Dich zu Gott, so naht er sich zu Dir und redet mit Dir durch seinen Geist. Er macht Dir das Wort wichtig, dass er Dir sagen will und schenkt Dir Gnade, es im Glauben festzuhalten. Verlasse Dich von ganzem Herzen auf den Herrn und seine Verheissungen; sie sind Ja und Amen und Du wirst immer wieder die herrliche Erfahrung machen, dass wir einen lebendigen Gott haben, der hält, was er verspricht. Suche ihn mit den Augen der Seele; und solltest Du ihn millionenmal verlieren, so kehre ebenso oft wieder zu ihm zurück. Er nimmt Dich immer wieder an, wenn Du Vertrauen zu ihm hast, und gibt Dir kraft und Gnade zum Bleiben in ihm und zur Befestigung Deines wankelmütigen Herzens. Alles ohne Ausnahme muss dem Herrn in unseren Herzen untergeordnet sein. Er ist es wert und kann uns alles ersetzen. Gibt es doch im Himmel und auf Erden nichts, das nicht in Gott seinen Ursprung hätte; sollte er uns darum mit sich nicht alles schenken, was uns beglücken und beseligen kann? Prüfe Dich, wie oft Du seiner gedenkst, und Du wirst schon von einem einzigen Tage finden, dass Deine Gedanken vielmehr der Welt und ihren vergänglichen Dingen angehören als Gott, der Dich so unendlich liebt. Auch unter Deinen Berufsgeschäften kannst Du seiner gedenken und mit dem Verlangen Deines Herzens bei ihm sein.

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Ein stilles Andenken an ihn, versetzt Dich in seine Gemeinschaft. Wer den Herrn hat, kann alles verlieren, er ist dennoch reich und glücklich und geniesst einen Frieden, den ihm die ganze Welt nicht geben aber auch nicht nehmen kann.

Der namen- und Kirchenchristen gibt es viele. Wie manche Seele wird nach ihrem Tode selig gepriesen, kann aber nicht ins Reich Gottes eingehen, weil sie nicht wiedergeboren ist. Draussen vor der Pforte des Himmels stehen viele, die meinten, sie hätten das ewige leben; aber es ist bei ihnen zu keinem Siege über die Sünde gekommen, darum bleiben ihnen die Tore zur Heimat verschlossen. Sie jammern und klagen und zweifeln an der Gerechtigkeit Gottes, weil es ihnen an der Selbsterkenntnis fehlt. Es sind auch solche unter ihnen, die Gemeinschaften ernster Christen angehörten, aber den alten Menschen nicht völlig abgelegt haben.

Sei nur redlich und aufrichtig vor Gott und gib willig in den Tod, was Dir sein Geist als nicht ins Lichtreich taugend aufdeckt. Den Aufrichtigen ist ja das Gelingen verheissen. Es kommt nicht darauf an, was die Menschen von Dir halten, sondern dass der Herr Dich anerkennt. Er ist der Herzenskündiger und weiss, wie wir es meinen, und wenn dich selbst die Frömmsten verkennen würden, so gilt doch einst sein Machtspruch allein. 

Bleibe in Deiner Kirche, solange das Wort Gottes rein und lauter darin verkündigt wird. Stosse Dich nicht an den Mietlingen, sondern befiehl sie der Barmherzigkeit Gottes. Bitte den Herrn, so oft Du ins Gotteshaus gehst: „Gib mir ein herz für Dein Wort und ein Wort für mein Herz!“ Gedenke in Deinem Gebet auch der andern Zuhörer und besonders des Predigers, so wirst Du nie ungesegnet von dannen gehen. Umfasse alle in herzlicher Liebe, die an den Sohn Gottes glauben und ihm nachfolgen, auch wenn sie einer anderen Religionsgemeinschaft angehören. Gott richtet uns nach seinem Wort und unseren Werken. Die Seligkeit hängt nicht davon ab, welcher Kirche wir auf Erden angehörten, sondern

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davon, dass wir der erkannten Wahrheit und der Stimme des Gewissens folgten. 

Lass Dir den Glauben Deiner Kindheit nicht erschüttern und halte Dich fest an die in der Heiligen Schrift dem gefallenen Menschen geschenkten Offenbarungen Gottes. Sie sind die zuverlässigste Quelle aller der übersinnlichen Wahrheiten, die uns zur Erreichung der verlorenen Herrlichkeit notwenig sind. Gott hat die ersten Menschen vollkommen erschaffen. Durch ihren Ungehorsam haben sie das Gleichgewicht zwischen den sinnlichen und sittlichen Grundtrieben verloren. Die sinnlichen sind immer überwiegender geworden und infolgedessen ist auch in ihrer ganzen Nachkommenschaft das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse von Jugend auf. Die Macht der Finsternis, welche die ersten Menschen zum Abfall von Gott verleitet hat, wirkt auf den geistigen Teil des Menschen in dem Grade ein, als derselbe die Hand dazu bietet. Der Herr schenkt aber auch Schutz und Einfluss aus dem Reich des Lichts, wenn die Umstände es erfordern und das Bedürfnis und Verlangen nach himmlischen Kräften vorhanden ist.    

Jede Seele, gleichviel welcher christlichen Konfession sie angehört, wenn sie nur an den Sohn Gottes von Herzen glaubt, seine Heilslehre annimmt, aufrichtig Busse tut und den innigen Wunsch hat, von der Sünde frei und ein wahres Kind Gottes zu werden, zieht nach dem Verhältnis ihres Glaubens den Heiligen Geist an, welcher bewirkt, dass die sittlichen Kräfte immer mehr gestärkt, die sinnlichen aber mehr und mehr geschwächt werden. So wächst der neue Mensch und wird tauglich für die himmlische Welt. 

Weil der Satan weiss, welche Herrlichkeit die Menschen erwartet, wenn sie sich durch Christus wieder zum Vater zurückführen lassen, so gibt er sich alle erdenkliche Mühe, sie auf alle Arten vom Wege des Lebens abzubringen und zu verderben.

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Du kannst dies bis in Deine bewusste Kinderzeit zurückverfolgen. Eine höllische Freude bereitet es dem Fürsten der Fisnternis, wenn er jemand den Glauben an die Göttlichkeit Jesu Christi untergraben und rauben kann. Das Geheimnis der Gottessohnschaft wird Dir in der Ewigkeit auf eine Weise enthüllt werden,, dass Du nur staunen und anbeten kannst. Inzwischen begnüge Dich mit der Erkenntnis, dass Gott eingrenzenloser, unfassbarer und ewig geborener Geist ist, der von seinen Geschöpfen nur in seiner ersten Offenbarung, in Jesus Christus, dem Erstgeborenen, dem Anfang und Ursprung aller Kreaturen, gesehen werden kann. Jesus nennt sich selbst den Sohn Gottes, weil er gleicher Natur mit Gott ist und zu ihm in dem Verhältnis steht, wie ein Sohn zu seinem Vater. Dieser Gottessohn übernahm die Führung und Erlösung des gefallenen Menschengeschlechts, offenbarte sich im Alten Bunde unter dem Namen Jehova und im Neuen Bunde als wahrer Mensch unter dem Namen Jesus Christus. Niemand kommt zum Vater denn durch ihn. Er allein kann uns die Kräfte mitteilen zum tatsächlichen Siege über die Sünde. Ihm ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden, darum will und muss Gott im Namen Jesu, das ist in seiner Person angebetet werden. (Joh. 14, 6 – 14). Wer den Sohn Gottes verwirft, schneidet sich dadurch selbst den Weg zu seiner Gottes Rettung ab und seine Zukunft liegt in der finstern Ewigkeit. 

Je treuer Du dem heiland wirst, desto mehr kann er Dir sich offenbaren. Nur eine treue Seele weiss, was es ist, von ihm geliebt zu werden. O wie klein und gering ist alles Erdenglück im Vergleich zu der Seligkeit seines Naheseins! Wie muss das Schönste und Reizendste, dass die Welt kennt, gegen den Schönsten erbleichen und zurücktreten.

Während der Pilger im Tränental wandert und glaubensvoll auf dunklen Wegen geht, bereitet der Herr für ihn Ewigkeitsfreuden, welche so gross sind, dass wir lieber alle Erdenleiden noch einmal durchmachen würden, als dass wir eine einzige seiner uns   

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zugedachten Herrlichkeiten missen wollten. O diese Liebe, die (menschlich geredet) immerdar sinnt, wie sie uns erfreuen und beglücken kann, sie kann in alle Ewigkeiten nicht genug gepriesen werden! Für all das Sehnen unserer herzen, das sie in uns hineinversenkt hat, gibt sie eine vollkommene, ewig dauernde Befriedigung. Jesus, Jesus allein! Sei je länger je mehr Deine Losung auf der Pilgerreise, mit welcher Du einst auch ungehindert durchs Todestal hindurchkommst. 

Wie ist der Mensch doch so verblendet und wie sicher lebt er auf der Erde. Und obgleich täglich Tausende und Abertausende oft ganz unversehens in die Ewigkeit abgerufen werden, rückt er den tiefernsten Augenblick des Todes immer wieder in die weite Ferne und sucht damit die mahnende Stimme des erwachten Gewissens zu beschwichtigen. Die Todesstunde weiss allein der Herr. Wenn für ein Gotteskind der Augenblick des Heimgangs gekommen ist, so offenbart er das den ihm nahestehenden Himmelsbürgern, damit sie die erlöste Seele abholen können. Auf die Botschaft Deines Heimgangs warte ich in Geduld und freudiger Hoffnung. Auf Flügeln der Liebe werde ich Dir entgegeneilen und Du wirst alles, was Dich drückt und beschwert, in einem Augenblick vergessen. 

Gib dem Gedanken keinen Raum, dass Dir irgend etwas fehlen könnte, was auf der Erde stille Wünsche für Dich waren; denn es ist nur Zeitverlust und Du versündigst Dich dadurch an der Liebe Gottes. Deine höchsten Ideale von Liebe und Freundschaft sind nur Schattenrisse von dem, was Dich im Reiche des Lichts erwartet, wo Du einen Wirkungskreis angewiesen bekommst, der Dich in einer Weise beglückt und befriedigt, wie Du es Dir auf der Erde nicht vorstellen kannst. Immer aufs neue wieder wird es Dir Seligkeit sein, wenn Du die Gaben und Talente, die der Herr Dir geschenkt hat, zu seiner Ehre verwenden darfst. Du wirst Dich in Verhältnisse gesetzt sehen, wo das Geben und Nehmen nicht aufhört. Ja

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jetzt schon warten liebe Freunde auf Dich und freuen sich auf die Zeit, wo sie das empfangen dürfen, was Gott in Dich gelegt hat und ihnen durch Dich schenken will. Mehr darf ich Dir nach dem Willen Gottes nicht sagen, und auch dieses wenige sind für Dich zur Aufmunterung erbetene Lichtstrahlen. 

Deinen schon oft gehegten Wunsch, ich möchte Dir einmal zum Trost erscheinen, kann der Herr Dir nicht erfüllen. Dein Herz würde sich in unordentlicher Weise an Deine Mutter hängen und über der Herrlichkeit, mit welcher er mich bekleidet hat, ihn selbst, die Quelle aller Wonne und Seligkeit, zurücksetzen. Ich flehe zum Herrn, dass er Dir die Augen öffne, dass Du in allem ihn siehst, dass Du erkennst, dass auch Du eine Offenbarung Gottes bist, die ihm Ehre und Freude bringen soll, und dass er mit unendlicher Liebe über Dir von Kindesbeinen an gewacht hat und alle Deine Schicksale leitet. Nimm auch diesen Brief aus seiner Hand und danke ihm für die darin enthaltenen Wahrheiten und Aufschlüsse. Alles Gute kommt von ihm und ist durch ihn gewirkt; darum gebührt auch ihm allein das Lob und der Dank. 

Der Herr schenke Dir Gnade, dass Du ihn immer inniger liebst und Dich immer fester an ihn hältst in den Stunden der Trübsal und Anfechtung. Dringe mutig vorwärts auf dem  Wege, den Du betreten hast, wanke und weiche nicht und lasse nicht nach mit Gebet und Flehen, bis er völlig Sieger in Dir geworden ist. Bringe ihm getrost alles, was er Dir durch Umstände und Personen als noch in Deinem Herzen wohnend aufdeckt. Dies sind alles Wirkungen seines Geistes, der an Dir arbeitet, der Dich reinigen und frei machen will von allem, was im Reiche Gottes keinen Eingang findet. Nur wen der Sohn frei macht, der ist recht frei;  aber er kann es nicht tun, wenn Du Deinen Willen nicht dazu hergibst. Bitte immer wieder um einen redlichen Sinn, dem es aufrichtig darum zu tun ist, in den Wegen Gottes zu wandeln und seine Gebote zu halten. Falle täglich dreimal auf die Knie nieder wie einst Daniel und                    

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flehe mit David: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist. Verwirf mich nicht von Deinem Angesichte und nimm Deinen heiligen Geist nicht von mir!“ 

Bitte den Herrn auch um seinen Beistand und Segen zu Deiner Berufsarbeit. Wenn er die Werke Deiner Hände nicht fördert, gelingt Dir nichts, und des Missgeschicks und der Widerwärtigkeiten ist kein Ende. Vergiss aber auch das Danken nicht für den Segen Gottes, für sein sichtbares Walten und seine tägliche Durchhilfe. Im Lichte der Ewigkeit sieht man hell und klar, dass es keinen Zufall gibt, sondern dass alles göttliche Leitung und Führung ist. Lass Dir nichts zu gering sein, es im Gebet vor den Herrn zu bringen, und sei fest davon überzeugt, dass einernstliches Gebet nie umsonst ist! Der Herr befestige diese Wahrheit in Deinem Herzen und stärke Deinen oft so schwachen Glauben an seine teuren Verheissungen. Je grösser Dein Vertrauen zum Herrn ist, desto mehr darfst Du seine Herrlichkeit sehen. Er vergisst nichts, auch das Kleinste nicht, um das Du ihn gebeten hast; denn er ist treu und wahrhaftig und hält, was er verspricht. Einen unerschöpflichen Reichtum von Gnaden Gottes kannst du durchs Gebet erschliessen nicht nur für Dich selbst, für Deinen inwendigen Menschen, sondern auch für das Heil aller der Seelen, mit denen  Gott Dich verbunden, bekannt gemacht und welche er Dir zugeordnet hat. Alle wollest Du vor seinen Gnadenthron bringen und er wird sie nach dem masse Deiner eigenen Treue und priesterlichen Fürbitte auch durch Dich segnen, ohne dass es Dir selbst immer bewusst wird. Das Arbeiten an andern ohne Fürbitte ist ein mühsames Eigenwirken, das die Kräfte verzehrt und keine Früchte bringt für die Ewigkeit. Was Gott in Dir wirken kann, das wirkt er auch durch Dich ohne Dein besonderes Zutun. Wenn seine Stunde gekommen ist, weist er Dir selbst einen Deinen Kräften und Gaben angemessen Wirkungskreis an.   

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Wenn du darin treu bist, wird Dir Dein Dienst unaussprechliche Freuden für die Ewigkeit bringen, auch wenn der Erfolg Deiner Arbeit Dir im Lande des Glaubens nach dem Willen Gottes verborgen bleiben sollte.

Gehe fleissiger als bisher zum heiligen Abendmahl und lasse Dich nicht von dem Gefühl Deiner Unwürdigkeit vom Genuss dieser Geistesspeise abhalten. Die Würdigkeit zum Empfang dieses heiligen Sakraments kann nur Gott schenken, wo wolltest Du sie denn sonst hernehmen? „Wie Du bist, so darfst Du kommen und wirst gnädig aufgenommen“, aber komme mit einem demütigen, bussfertigen und vertrauensvollen Herzen. Halte Dich im Glauben nur fest an die Einsetzungsworte, so wirst Du die Kräfte des heiligen Fleisches und Blutes Jesu gewiss in Dich aufnehmen, auch wenn dir das heilige Mahl von den Händen eines Zweiflers oder Ungläubigen gereicht würde. O wie notwendig ist diese himmlische Speise zum Siege über die Sünde, zur Verbindung mit dem Heiland und zum Wachstum des Auferstehungsleibes! Teile aber nicht die Meinung so vieler Christen, dass mit der Vergebung der Sünde sie schon abgelegt und überwunden sei. Das Ablegen und Überwinden geschieht nach und nach durch das gläubige Anziehen der im Fleische und Blute Christi enthaltenen Kräfte, die der Herr durch seine beständige Treue in allen Versuchungen für uns erworben hat. Der Genuss des heiligen Abendmahls lässt den Menschen nicht wie er ist; er wird entweder glaubens- und geistvoller oder geistloser und zuletzt verstockt. 

Bitte besonders auch um ein Herz vollheiliger, alles umfassender jesusliebe! Das sind die rechten jesusjünger, die nicht nachlassen, bis sie dieses köstliche Kleinod besitzen. Wer von dieser Liebe erfüllt ist, opfert sich gerne, denkt nicht an sich selbst, sondern will immer andere beglücken und andern dienen und möchte allen geholfen wissen. 

Beharre bis ans Ende nicht nur in der Liebe, sondern auch voll Gottvertrauen in den

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Leiden, in den schweren Bedrängnissen, in den Stunden, wo es dunkel geworden ist. Halte dem Herrn stille und demütige Dich unter seine reinigende Hand. Ein Tag um den andern geht dahin und endlich, wenn auch nach langen, bangen Stunden, geht der frohe Morgen auf, und Freude und Wonne wird über Deinem Haupte sein, wenn Du Dich bis ans Ende festgehalten hast an dem unsichtbaren, lebendigen Gott. Wer glaubensvoll zu ihm aufblickt, kann auch in Leidensstunden, ruhig sein und bekommt Kraft, alles in Geduld zu tragen. Täglich schenkt ihm der grosse Siegesfürst neue Gnade zum Ausharren und immer wieder tröstliche Ausblicke auf die Zeit, wo alles Leid ein Ende hat, wo aller Kummer verschwunden und alle Betrübnis vorüber ist.

Wie viele Mühe hat der Herr mit jedem Menschenkinde, bis es sich ihm gänzlich ergeben hat. Er lässt nicht nach mit seiner Arbeit, bis er seinen Zweck erreicht hat. Je ungeduldiger Du bist, desto länger braucht der Herr: je mehr Du Dich widersetzest, desto mehr hat er mit Dir zu tun. Denke an die Stunde, wo er dann sprechen wird: „Es ist genug!“ und freue Dich, wenn der Herr Dich würdigt zu leiden. Danke ihm, dass er Dir in der Gnadenzeit alles aufdecken, Dich reinigen, zubereiten und herrlich machen will, dass Du eine Zierde werdest in seinem heiligen Tempel. Der Herr will Dich tüchtig machen, dass es auch bei Dir heissen möge: „Von nun an selig, von nun an beglückt!“ Ach, es ist lauter Liebe! Der Schmelzer sitzt bei Dir und läutert Dich. Wenn das Gold rein genug ist, wird es aus dem Tiegel genommen. Halte aus und glaube fest, dass der Herr Dich keinen Augenblick länger leiden lässt, als es zu Deiner Reinigung, Läuterung und Verherrlichung notwendig ist.

Ich habe Dir durch besondere Gnade Gottes vieles ans Herz legen und manchen tröstlichen Ausblick in die Zukunft geben dürfen. Sei nun auch Täter des Wortes, nicht Hörer allein.

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Denn was hilft alles Hören, wenn man nicht eingeht in die Wege Gottes und nicht nach seinem heiligen Willen und Wohlgefallen lebt. Nur wer mit Entschiedenheit kämpft und sich freimachen lässt von der Knechtschaft der Sünde, darf sich der gewissen Hoffnung des ewigen Lebens freuen, nur der hat die innere von Gott geschenkte Versicherung einer Heimat im himmlischen Vaterlande. Darum wache und bete, bitte, flehe und ringe, bis der Herr Dir zum völligen Siege verholfen hat, dann wird Dir unsere Wiederereinigung zur unerschütterlichen Gewissheit werden. Und wenn Du nächtlich zum gestirnten Himmel emporschaust, so denke auch fernerhin an Deine Mutter. Dort oben wohnt Friede. Kein Kummer, keine Sorge, kein Leid und kein Schmerz sind dort mehr zu finden. Keine Sünde, keine Macht der Finsternis kann das Herz dort mehr berücken, wer im obern Vaterhause wohnt, ist ewig geborgen. Gedenke aber auch an die unsagbare Reue, wenn Du durch Unentschiedenheit und Trägheit im Wachen und Beten Dein himmlisches Erbteil verscherzen würdest. Der Herr bewahre Dich vor diesem ewigen Verluste und vor den nie geahnten Qualen im Reiche der Finsternis.

Bleibe Deinem Heiland treu! Er schenkt Dir seine Gnade dazu und lässt Dir auf jede Treue wieder neue kraft zufliessen zu fernerer Treue. Mit den Augen des Geistes blicke ich auf die dunkle Erde nieder und bete für Dich. Habe Gott vor Augen und im herzen und erfreue durch eine treue nachfolge in des Herrn Fussstapfen.

Deine

Mit inniger Sehnsucht

Auf Dich wartende Mutter

Berta H.

Ende der „Sechs Erzählungen aus dem Jenseits“ von Joseph Hahn.

Joseph Hahn hat noch weitere hoch interessante Bücher verfasst:

z.B.  Der Geisterhannesle

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